Die Gefahr ist näher, als viele denken
Sexuelle Gewalt gegen Kinder vor allem im direkten Umfeld – Neue Kampagne warnt
- „Mach niemandem die Tür auf!“So lautet der Rat vorsichtiger Eltern an ihre Kinder. „Und wenn die Gefahr schon drin ist?“, heißt es in einer neuen Aufklärungskampagne gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen, die am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde. Ein weiterer kurzer Film, der im Radio, Fernsehen und in den sozialen Medien publiziert werden soll, greift den Spruch auf: „Geh nicht mit Fremden mit!“Eine Stimme kommentiert dies mit den Worten: „Und wenn es gar kein Fremder ist?“
Die Kampagne, die vom Bundesfamilienministerium und der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, initiiert wurde, will Schluss machen mit angeblichen Gewissheiten über Kindesmissbrauch.
Grotesk: Laut einer repräsentativen Umfrage gehen 90 Prozent der Befragten davon aus, dass sexuelle Gewalt vor allem in Familien stattfindet. Zugleich glauben 85 Prozent, dass es ausgeschlossen oder unwahrscheinlich ist, dass dies in der eigenen Familie passiert. „Schieb den Gedanken nicht weg!“ist deshalb die Aufklärungskampagne überschrieben.
Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Etwa drei Viertel der im
vergangenen Jahr von der Polizei registrierten rund 15 000 Fälle von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen ereigneten sich im familiären Umfeld – ein Anstieg um 6,3 Prozent gegenüber 2020. Hinzu kommt noch ein wahrscheinlich wesentlich größeres Dunkelfeld, in dem die Relation ähnlich sein dürfte.
Laut der Missbrauchsbeauftragten Claus geht es bei der Kampagne darum, die Bevölkerung mehr für Taten in den Nahbereichen Familie oder Bekanntenkreis zu sensibilisieren. Vorfälle etwa im Sportverein oder bei den Kirchen würden zwar häufiger in der Öffentlichkeit diskutiert. Nur diene die weit verbreitete Vorstellung, dass sexuelle Gewalt woanders stattfinde, vielleicht der eigenen Beruhigung, sie mache aber auch blind.
Was aber tun, wenn man einen Verdacht hat? Claus empfiehlt, entweder beim bundesweit geschalteten Hilfetelefon – unter der Nummer 0800 / 22 55 530 – Rat einzuholen oder sich an eine der 350 Fachberatungsstellen in Deutschland zu wenden. Dort könne man sich über mögliche Vorgehensweisen informieren, wenn man etwas beobachtet hat – oder beobachtet zu haben meint. Wichtig sei es zu versuchen, direkt mit den Kindern zu sprechen. „Aber bitte vorsichtig. Nicht sofort sagen: Erzähl mir, was da passiert ist“, erläuterte die Missbrauchsbeauftragte. Eine weitere Möglichkeit sei, sich an vertrauenswürdige Leute aus dem Umfeld zu wenden.
Die Film- und Plakatkampagne kostet jährlich rund fünf Millionen Euro. Das Projekt könnte zumindest bis Ende 2025 fortgeführt werden.