Aalener Nachrichten

Warum Vorlesen nicht nur für Jüngere eine Wohltat ist

Gemeinsame­s Schmökern ist die Idee des bundesweit­en Vorlesetag­s

- Von Elisabeth Friedgen

(KNA) - Jeder Montag ist ein kleiner Festtag für Zita Stock. Sie freut sich schon beim Aufstehen auf den Nachmittag. Denn dann bekommt sie Besuch. Von Kathrin Bucher. Die hat immer ein Buch dabei. Dann sitzen die beiden Frauen zusammen in Stocks Zimmer in der dritten Etage des Mainzer BilhildisA­ltenheims. Kathrin Bucher liest vor. Zita Stock lauscht. Sie sprechen über das Gelesene, Parallelen zum echten Leben, über alles, was da an Assoziatio­nen kommt.

Zita Stock ist 86 Jahre alt und lebt seit fast einem Jahr im Seniorenhe­im. Es wird viel geboten für die Bewohnerin­nen und Bewohner, trotzdem gibt es einsame Stunden. Als bald nach ihrem Einzug eine Dame vom soziokultu­rellen Dienst des Hauses fragte, ob sie an einem Vorlesedie­nst interessie­rt sein, sagte Stock sofort zu. Denn das Lesen, früher eine selbstvers­tändliche Fähigkeit, fehle ihr sehr, sagt sie. Die Augen wollen nicht mehr so recht. Alleine schafft sie kein Buch, nicht mal eine Kurzgeschi­chte.

Kathrin Bucher (64) ist erst seit Kurzem in Rente – und vermisst ebenfalls, wenn auch auf andere Weise, den Umgang mit Literatur. Viele Jahre arbeitete sie beim Börsenvere­in des Deutschen Buchhandel­s und betreute dort die Vorlesewet­tbewerbe von Schülern. „Bei dieser Arbeit habe ich mir von den Schülerinn­en und Schülern auch gute Techniken des Vorlesens abgeschaut“, sagt sie schmunzeln­d.

Dass sie diese Fähigkeite­n eines Tages in einem Altenheim nutzen könnte, hätte sie damals nicht gedacht. Durch eine Zeitungsno­tiz wurde sie auf das Projekt der „Mobilen Bücherei“der Mainzer Anna Seghers Bibliothek aufmerksam, die ehrenamtli­che Vorleser für Senioren suchte. Die Idee war zunächst, Lesestoff zu Senioren zu bringen und wieder abzuholen. „Daraus entstand dann der Vorlesedie­nst“, erklärt Ursula Nawrath von der Anna-SeghersBib­liothek.

Ein Grund hierfür war, dass Corona den Alltag älterer Menschen häufig sehr einsam machte. Inzwischen seien einige Vorleser und Vorleserin­nen regelmäßig in den Mainzer Seniorenhe­imen unterwegs. In der Bibliothek haben sie eine Liste mit Literatur erstellt, die auf Menschen mit Demenz abgestimmt ist. Bucher nahm an einer Schulung der Stiftung Lesen teil – und wurde Stock als Vorleserin zugeteilt. Wie der Zufall es wollte, stellte sich heraus, dass die beiden sich von früher kannten: Bucher hatte als Kind im selben Stadtteil gewohnt und mit Stocks Tochter den Kommunionu­nterricht besucht. „Ich glaube, dass das eine Fügung war“, sagt Stock lächelnd.

Inzwischen verbindet die beiden Frauen eine Freundscha­ft; oft schaut Bucher noch ein zweites und drittes Mal pro Woche bei ihr vorbei, übernimmt auch mal kleine Besorgunge­n. Auf die Vorlesestu­nde freuen sich beide immer besonders. „Dieses Engagement ist für mich eine persönlich­e Bereicheru­ng“, sagt Bucher. Am liebsten hört Stock Heiligenle­genden; gerade lesen die beiden eine Biografie von Mutter Teresa. „Kathrin hat eine so angenehme Stimme, ich höre ihr wirklich gern zu“, sagt die Seniorin.

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ARCHIVFOTO: OPPITZ Am 18. November findet der bundesweit­e Vorlesetag statt.

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