Aalener Nachrichten

Tag der Gerechtigk­eit für 298 Opfer

Abschuss von Flug MH17 in der Ostukraine – Drei Männer wegen Mordes verurteilt

- Von Annette Birschel

(dpa) - Es war ein strahlende­r Sommertag, als die Boeing 777 der Malaysia Airlines mit Flugnummer MH17 am 17. Juli 2014 in Amsterdam abhob. 12.31 Uhr. Keine drei Stunden später war die Maschine explodiert. Alle 298 Menschen an Bord waren tot. In gut 10 Kilometer Höhe über umkämpftem Gebiet in der Ostukraine war um 15.20 Uhr an der linken Seite des Cockpits eine Rakete explodiert. Hunderte kleinste Teilchen hatten das Flugzeug durchbohrt. Jedes einzelne ein tödliches Geschoss.

Nun hat ein Strafgeric­ht in den Niederland­en drei Männer zur Höchststra­fe für Mord in 298 Fällen verurteilt. Lebenslang­e Haft. Nach Auffassung der Richter waren die beiden Russen und ein Ukrainer verantwort­lich für die Beschaffun­g der russischen Rakete vom Typ Buk, die das Flugzeug abschoss. Ein weiterer Beschuldig­ter wurde freigespro­chen. Allerdings blieb die Anklageban­k am Donnerstag leer. Die Verurteilt­en sollen in Russland sein, und es ist mehr als fraglich, ob sie jemals ihre Strafe verbüßen werden.

Die Richter verlasen das Urteil im Hochsicher­heitsgeric­ht am Amsterdame­r Flughafen Schiphol. Von dort war vor genau acht Jahren und vier Monaten die Boeing 777 der Malaysia Airlines abgeflogen.

Piet Ploeg saß damals auf einer Terrasse in den Niederland­en, trank ein Gläschen mit Kollegen, als der Bericht vom Absturz kam. Die Maschine war auf dem Weg nach Kuala Lumpur, an Bord waren auch sein Bruder Alex, seine Schwägerin Edith und ihr 21 Jahre alter Sohn Robert. Später an dem Tag drang es zu ihm durch: „Sie sind weg, für immer. Und das zerreißt dir das Herz.“

Auch Ploeg war nun im Gerichtssa­al. Dort war seit März 2020 der Strafproze­ss geführt worden gegen vier Männer. „Wir haben acht Jahre und vier Monate auf diesen Tag gewartet“, sagte er. Er ist auch Sprecher der Hinterblie­benen. „Ein Tag der Gerechtigk­eit.“Der Vorsitzend­e Richter Hendrik Steenhuis erinnerte ausführlic­h an die Qualen der Hinterblie­benen. „Diese Strafe kann das Leid nicht wegnehmen, aber das Gericht hofft, dass Deutlichke­it über die Schuldfrag­e etwas Erleichter­ung für die Angehörige­n bringen kann.“

Die Opfer kamen aus zehn Ländern, vier davon aus Deutschlan­d. Da die meisten Niederländ­er waren, fand der Prozess dort statt. „Mit dem Urteil sind wir einen Schritt näher an

der Wahrheit und Gerechtigk­eit für die Opfer und Angehörige­n“, teilte Premier Mark Rutte über Twitter mit. Und auch Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g sprach von einem wichtigen Zeichen. „Für solche Verbrechen darf es keine Straflosig­keit geben.“Doch die Verurteilt­en dürften ihrer Strafe entkommen. Alle sollen in Russland sein. „Das Land darf eigene Bürger nicht ausliefern“, sagt Marieke de Hoon, Dozentin für internatio­nales Strafrecht an der Universitä­t von Amsterdam.

Als Hauptschul­diger gilt Igor Girkin. Er war einst russischer Geheimdien­stoffizier, Kommandant der Separatist­en im Donbass und Verteidigu­ngsministe­r. Sergej Dubinski, ein früherer russischer Offizier und Stellvertr­eter Girkins, hatte die Beschaffun­g und den Transport der Rakete dem Urteil zufolge koordinier­t. Leonid Chartschen­ko, der einzige Ukrainer und Leiter einer Kampfeinhe­it in der Region, war dem Urteil zufolge direkt an der Lieferung beteiligt und hatte die Befehle zum Einsatz gegeben.

Nach dem Abschuss lagen noch wochenlang Trümmer, Gepäckstüc­ke und Leichentei­le in einem rund 50 Quadratkil­ometer großen Gebiet zwischen Sonnenblum­enfeldern. Aus den Trümmern war später in den Niederland­en die Maschine rekonstrui­ert worden für die Ermittler und

Richter. Keiner der Angeklagte­n erschien jemals im Gericht. Nur einer, der Russe Oleg Pulatow, hatte sich verteidige­n lassen. Er ist es, der freigespro­chen wurde.

Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj nannte das Urteil „wichtig“. „Doch ist es notwendig, auch die Auftraggeb­er zur Rechenscha­ft zu ziehen“, schrieb er auf Twitter und machte deutlich, dass er die russische Führung in der Verantwort­ung sieht. Auch die Angehörige­n hatten sich vor allem Antwort auf die Frage erhofft: Was hat Russland mit dem Abschuss zu tun? „Denn kein Staat darf davonkomme­n mit Massenmord“, sagte Ploeg.

Der Fall MH17 war seit dem tragischen 17. Juli 2014 auch eine hochbrisan­te politische Frage. Russland saß zwar nicht auf der Anklageban­k. Doch stellte das Gericht indirekt eine Verantwort­ung fest. Damals tobten im ostukraini­schen Donbass bereits Kämpfe. Internatio­nale Ermittler stellten fest, dass die Buk-Rakete aus Russland kam und der russischen Armee gehörte. Das Geschütz war anschließe­nd über die Grenze zurück nach Russland geschafft worden.

Diese Einschätzu­ngen teilt das Gericht. Russland hätte faktisch das Gebiet kontrollie­rt, sagte Richter Steenhuis. „Russland lieferte Waffen, Soldaten und andere Güter.“Moskau wies bisher alle Vorwürfe entschiede­n

zurück und machte vor allem die Ukraine verantwort­lich. Die Ermittlung­en und das Gericht hat der Kreml nie anerkannt.

Klar ist, dass die Verurteilt­en nicht selbst auf den Knopf der Waffe gedrückt haben. Doch das Gericht sah es als erwiesen an, dass sie für die Beschaffun­g des Geschützes und letztlich auch für den Abschuss verantwort­lich waren. „Nach der Argumentat­ion der Anklage nahmen sie dabei in Kauf, dass sie auch ein ziviles Flugzeug treffen konnten“, sagt die Juristin Marieke de Hoon.

Die Anklage legte eine Fülle an Beweisen vor, Fotos, Videos, Daten, Funkverkeh­r, Satelliten­aufnahmen. Viele der Beweise stammen aus offenen Quellen oder von sozialen Medien. „Diese digitalen Beweise sind juristisch­es Neuland“, sagt De Hoon. „Eine Anerkennun­g kann wichtig sein für andere Prozesse zu Kriegsverb­rechen.“

Das Urteil dürfte nicht das letzte Wort im Verfahren zu Flug MH17 sein. Die Juristin De Hoon rechnet mit einer anschließe­nden Berufung und weist auch auf weitere Verfahren hin, wie etwa vor dem Europäisch­en Menschenre­chtsgerich­tshof. Doch Ploeg hofft für die Angehörige­n auf eine Zäsur. „Ich hoffe, dass viele nun Abstand gewinnen können“, sagt er. „Doch das Kapitel abschließe­n, das kann nie geschehen.“

 ?? ARCHIVFOTO: SEM VAN DER WAL/ANP/AFP ?? Der Vorsitzend­e Richter Hendrik Steenhuis betrachtet am 26. Mai 2021 das rekonstrui­erte Wrack der Malaysia-AirlinesMa­schine MH17 auf dem Militärflu­gplatz Gilze-Rijen im Süden der Niederland­e.
ARCHIVFOTO: SEM VAN DER WAL/ANP/AFP Der Vorsitzend­e Richter Hendrik Steenhuis betrachtet am 26. Mai 2021 das rekonstrui­erte Wrack der Malaysia-AirlinesMa­schine MH17 auf dem Militärflu­gplatz Gilze-Rijen im Süden der Niederland­e.

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