Viel gelobt, aber wenig gelesen
Vor 100 Jahren starb Marcel Proust – „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“gilt trotz Unzugänglichkeit als Weltliteratur
Das Schreibzimmer in seiner Wohnung am Boulevard Haussmann, in der Marcel Proust von 1907 bis 1919 lebte und in der er weite Teile seines Hauptwerks „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“schrieb, verdunkelte er mit schweren Vorhängen und ließ es gegen den Lärm mit Kork verkleiden. Wie in einer Dunkelkammer saß er da, lauschte seinen Erinnerungen nach, die wie Bilder einer Laterna Magica vor seinem geistigen Auge vorbeizogen. Heute, in Zeiten der Pandemie, würde man das „Lockdown Deluxe“nennen.
Schon in seinem Frühwerk „Les Plaisirs Et Les Jours“(1896), dieser Sammlung von Prosastücken, zeichnet sich Prousts Ästhetik ab, wenn er schreibt: „Ich begriff, dass Noah die Welt nie so gut sehen konnte wie von der Arche aus, obwohl sie verschlossen war und es Nacht war auf der Erde.“In einer völlig aus den Fugen geratenen Moderne, in der es keine Sicherheit mehr gibt, seitdem Albert Einstein mit seiner Relativitätstheorie die Grenzen von Zeit und Raum aufgehoben und Sigmund Freud das Ich infrage gestellt hat, bleibt, um die Welt neu zu denken, für den 1871 geborenen Proust nur der Rückzug ins stille Kämmerlein. Von Asthmaanfällen geplagt führt er ein durch und durch (v)erinnertes Leben.
Auch die Herausforderungen unseres heutigen digitalen Zeitalters führen zu einer Atomisierung und
Verunsicherung des Individuums. So lässt sich, wenn am 18. November der 100. Todestag von Marcel Proust ansteht, die Frage stellen, inwieweit sein Werk heute wieder aktuell ist. So mancher hat in den vergangenen gut zwei Jahren während der Pandemie vielleicht (erneut) einen Versuch unternommen, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“(1913 bis 1927) zu lesen – und mag (erneut) gescheitert sein. Was vor allem am Stil liegt, der uns, wie Ulrike Sprenger in ihrem „Proust-ABC“so schön formuliert, „manchmal bis zur Schwerfälligkeit
und Lächerlichkeit überladen“vorkommt. Mal ehrlich: Nur wenige haben Proust gelesen, da geht es ihm nicht anders als seinen berühmten Kollegen James Joyce oder Robert Musil – trotzdem schwärmen alle von ihren Büchern. Warum ist das so?
Nun, negative Kritik üben lässt sich nur an etwas, das man kennt. Beim Loben ist das anders. Es zieht viel seltener Rückfragen nach sich und ist deswegen unverfänglicher. Keiner weiß das besser als ein Kritiker. Dazu kommt: Hochkultur und Avantgarde sind immer en vogue.
Man schmückt sich nur allzu gerne damit. Das aber ist nicht der einzige Grund für Prousts Erfolg. Vom anachronistischen Stil seiner Sprache mal abgesehen ist dieser Schriftsteller immer noch auf gewisse Weise modern. Wie er die Vielschichtigkeit und Disparität des Bewusstseins evoziert und spürbar werden lässt, sucht seinesgleichen. Flüchtige Gefühlsübergänge macht er sinnlich erfahrbar. In der ausgeklügelten Konzeption seines Romanzyklus spiegelt sich das eigentlich Thema seines Textes: die künstlerische Aneignung der modernen Welt, der anders nicht mehr beizukommen ist, seit das Subjekt nicht mehr als Einheit wahrgenommen wird.
Nur folgerichtig erscheint es, dass alle von Proust jemals geschriebenen Texte am Ende in seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“aufgehen. Sein Hauptwerk steht in seiner konzeptuellen Form, wie die neuere Forschung heute konstatiert, für Offenheit und Unabschließbarkeit. Proust glaubt fest an den Vorrang einer inneren über die äußere Wahrnehmung“, schreibt Ulrike Sprenger über den Erzähler der „Suche nach der verlorenen Zeit“: „Die einzeln aus dem Dunkel fokussierbaren Eindrücke geben Marcel ein intensiveres und konzentrierteres Bild, als es die chaotische Vielfalt des Ganzen könnte.“Schreiben als innere Einkehr. Lesen als meditativer Akt. Marcel Proust ist darum ein hoffnungslos veralteter und zugleich doch ein hochaktueller Schriftsteller.