Keine Chance auf Rückkehr in die geliebte Heimat
Im Camp Mam Rashan leben seit fast acht Jahren geflüchtete Jesiden – Sie setzen auf „Helfen bringt Freude“
Die Langeweile, die Ödnis, die Perspektivlosigkeit sind in dem Wohncontainer, in dem Khalil Majbar Haji mit seiner achtköpfigen Familie lebt, geradezu körperlich zu spüren. Hier, im Camp Mam Rashan in der Autonomen Region Kurdistan, sind die Menschen zwar sicher vor Gewalt, Bomben, Anschlägen und Terror. Sie bekommen Lebensmittel, manche finden Arbeit als Tagelöhner. „Aber die Tatsache, dass wir nicht in unsere Heimat, das Shingal-Gebirge, zurückkehren können, macht mich fertig“, sagt der 47-jährige Familienvater. Heimweh, Wehmut und Mutlosigkeit sind ihm, dem vielfach ausgezeichneten, kampferprobten Veteranen der kurdischen Sicherheitskräfte, der Peshmerga, anzumerken. An klaren Tagen erklimmt Khalil Majbar Haji die Anhöhe hinter dem Camp und schaut nach Südwesten, in Richtung Heimat: „Nur zwei, drei Stunden im Auto – und wir wären wieder zu Hause.“
Doch der Heimweg ist versperrt, vermint, verwehrt.
Im August 2014 hatte die Terrormiliz „Islamischer Staat“(IS) große Gebiete des Irak überrannt. Die religiöse Minderheit der Jesiden, seit vier Jahrtausenden im Shingal-Gebirge ansässig, verfolgten die Terroristen mit tödlichem Hass. Tausende Jesiden wurden ermordet und verschleppt. Etwa 7000 Frauen und Kinder wurden vom IS als Sklavinnen und Sklaven verschleppt. 3000 Jesidinnen und Jesiden werden weiterhin vermisst. Die UN sprachen von einem Völkermord. Von 540 000 Geflüchteten allein in seinem Verantwortungsbereich, spricht der Gouverneur der Provinz Dohuk, Ali Tatar: „Zwei Millionen Menschen lebten vor 2014 in der Provinz Dohuk – und sie nehmen seither eine halbe Million Geflüchtete auf: Die Zahlen sprechen für sich und die Gastfreundschaft, mit der wir unseren Brüdern und Schwestern helfen.“
Über seine Erfahrungen im Krieg, an der Front und im Kampf gegen den IS mag Khalil Majbar Haji, der Peshmerga-Veteran, nicht sprechen. Nur so viel: Er wurde während der Kämpfe verwundet. Heute bezieht er eine kleine Rente von 250 Dollar im Monat. Angesichts von Lebensmittelpreisen, die sich fast auf deutschem Niveau bewegen, bleibt Khalil Majbar Haji optimistisch: „Immerhin. Und besser als nichts.“
Seine Frau, Kamo Ismalil Hairden, erinnert sich an den Beginn des Überfalls: „Unser Haus wurde bombardiert, es gab auch Explosionen in den benachbarten Geschäften.“Die Gewächshäuser der Familie: „Zerstört.“Die Felder: „Niedergebrannt.“Das Vieh: „Gestohlen.“
Khalil Majbar Haji konnte fliehen: Wie die meisten der Geflüchteten lebt er mit seiner Familie in einem der 20 Camps in der Provinz Dohuk. „Aber dass wir jetzt bald acht Jahre hier sind, das ist schwer zu verstehen!“Wie er den Tag verbringt? Der Jeside deutet stumm auf den Fernseher, der an der Wand hängt.
Realistische Chancen, in absehbarer Zeit ins Shingal-Gebirge zurückzukehren und dort sicher und in Frieden leben zu können, haben die Jesiden nicht: Zwar ist der IS, der über Jahre große Gebiete im Irak und im benachbarten Bürgerkriegsland Syrien kontrollierte, militärisch besiegt. Mittlerweile haben die Extremisten ihr Herrschaftsgebiet wieder verloren. IS-Zellen sind aber in beiden Ländern weiter aktiv. Beobachter warnen davor, dass die Dschihadisten wieder einen Aufschwung erleben.
Aber andere politische Akteure sind im Shingal-Gebirge aktiv: Die Türkei bombardiert dort nach eigenen Angaben seit geraumer Zeit unter anderem Verstecke, Tunnel und Munitionsdepots der in der Türkei verbotenen PKK. Ankara begründete die Offensive mit dem Schutz vor Terrorangriffen und dem Recht auf Selbstverteidigung. Die PKK steht in der Türkei, Europa und den USA auf der Terrorliste und unterhält Stellungen in der Südosttürkei und im Nordirak.
Weiter verfolgt Iran im ShingalGebirge seine Interessen: Wichtige Nachschublinien in Richtung Syrien und Libanon verlaufen durch die Region.
Bewegt sich wirklich nichts? „10 000 Jesiden haben versucht, ins Shingal-Gebirge zurückzukehren“, sagt Baeez K. Shamo, der Campmanager in Mam Rashan, „aber die allermeisten Rückkehrer haben nach kurzer Zeit aufgegeben und sind jetzt wieder in unseren Camps.“Die ständige Bedrohung durch die verschiedenen militärischen Gruppen, kein Strom, kein Wasser und auch keine Möglichkeit, von der eigenen Arbeit auf den Feldern zu leben, gaben den Ausschlag, in die Sicherheit der Camps zurückzukehren: „Wir richten uns darauf ein, dass die Camps noch lange bestehen.“Ob aus Mam Rashan, einem Camp, in dem „Helfen bringt Freude“seit 2017 aktiv ist und sich an Schulen beteiligt, eine Krankenstation eingerichtet hat, zwei Basare gebaut und zwei Sportplätze errichtet hat, irgendwann eine eigene Gemeinde wird? Zum Vergleich: Kißlegg im Landkreis Ravensburg hat 8500 Einwohner, ist somit nur wenig größer.
Shamo, 31 Jahre alt und seit einigen Monaten für die 7400 Bewohner in Mam Rashan verantwortlich, blickt der Wirklichkeit ins Auge: „Selbstständigkeit ist bei uns kein Thema, solange die Menschen auch nur eine minimale Chance auf Rückkehr sehen. Bei uns liegen die Probleme im Überleben. Morgen ist wichtig. Was übermorgen kommt, wissen wir nicht.“Denn: „Die meisten Nichtregierungsorganisationen, die sogenannten NGO, haben sich aus den Camps zurückgezogen, lassen die Menschen alleine.“Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (World Food Programme /WFP) beispielsweise habe die Arbeit eingestellt. Die Gründe: Geldmangel und andere Schwerpunkte, vor allem Hilfe für die von Hungersnöten bedrohten Regionen in Afrika. Jahrelang hatten die Campbewohner Nahrungsmittel aus dem WFP-Engagement erhalten. Diese Hilfe entfällt ersatzlos. Die Folge: Viele Kurden und vor allem Jesiden fliehen nach Europa. Shamo bittet: „Ihr aus Schwaben seid weiter da! Und bleibt bitte da! Ihr habt so viel Gutes ermöglicht, helft uns bitte auch im Jahr 2023.“
Zurück in den Container von Khalil Majbar Haji. Seine Frau Kamo Ismalil Hairden bringt Tee. Mittlerweile sitzt auch Karlan in der Runde, will sich mit den Besuchern aus Deutschland unterhalten. Er profitiert direkt von der Aktion „Helfen bringt Freude“der „Schwäbischen Zeitung“: „Wir, meine Schwester und ich, nehmen jeden Morgen den Schulbus und fahren damit zur Schule“, sagt der junge Mann. Vier Busse, im Jahr 2019 angeschafft, bringen 190 Mädchen und Jungen ins zehn Kilometer entfernte Gymnasium. Karlan, sein Name bedeutet übersetzt „Der tüchtige Arbeiter“, will im übernächsten Jahr sein Abitur ablegen: „Und dann studieren.“Die Pandemie habe ihn schulisch zurückgeworfen: Über die Hälfte der Jugend im Irak hat Lerndefizite zu verzeichnen. Karlan aber kennt Erfolgsgeschichten: „Meine Nachbarn, Ysra und Sadik, haben ihr Abitur bestanden und sind jetzt auf der Universität.“
Hier hakt Campmanager Shamo ein. Er sieht, dass Bildung die einzige Chance ist, dem Teufelskreis zu entkommen: „Wir brauchen diese Busse dringend, daher bitten wir um Hilfe beim Unterhalt.“Seine Sorge sind Treibstoff, Reparaturen, die Gehälter der Fahrer: „Alles ist teurer geworden, viel teurer.“Shamo will, dass die Busse für die Schüler weiter kostenfrei fahren: „Umgerechnet 25 Dollar wären pro Monat für das private Schulbus-Unternehmen fällig! Das kann sich niemand leisten.“
Der Nachmittag geht zu Ende, der Container füllt sich. Wieder gibt es Tee. Einer der Söhne der Familie, Zizal Khalil, kommt heim. Er arbeitet als Tagelöhner für einen Dollar pro Tag, hat einem Bauern geholfen. Die Böden in Kurdistan sind sehr fruchtbar – eigentlich. Doch seit einigen Jahren ist der weltweite Klimawandel auch im Nahen Osten spürbar. „Alles ist hier viel zu trocken“, sagt Zizal Khalil, „im Grunde haben wir nichts mehr zu tun. Es wächst ja nichts mehr.“Die Folge: Zehntausende Bauern im Irak haben aufgegeben und sind als Tagelöhner und Erntehelfer in die Städte gezogen – der Zustrom aus den Dörfern hält an. Die Aussichten: In den nächsten 30 Jahren sollen die Temperaturen im Irak zwei- bis siebenmal schneller als im globalen Durchschnitt steigen, analysieren Klimaforscher. Iraks Landwirtschaft war nach den fossilen Energien das zweite ökonomische Standbein, die zweite Einkommensquelle des Landes.
Zeit zum Aufbruch. Was bewegt Campmanager Shamo? Er nimmt den Gesprächsfaden auf und spricht über die Hitze im Sommer. 55 Grad Celsius habe er gemessen. Sein Team habe die Brunnen immer und immer tiefer bohren müssen. Gut möglich, dass schon bald die Unterstützung aus Deutschland, aus der Aktion „Helfen bringt Freude“, für die Wasserversorgung gebraucht wird: „Der Klimawandel holt uns einfach an allen Stellen ein!“