Aalener Nachrichten

Deutlich mehr Lohn – aber nicht sofort

IG Metall und Südwestmet­all finden zu einem Kompromiss – Unternehme­n können Prämie flexibel auszahlen

- Von Eva Stoss

LUDWIGSBUR­G - 8,5 Prozent mehr Lohn und 3000 Euro Inflations­prämie bei einer Laufzeit von zwei Jahren: Das sind in Kurzform die Ergebnisse der Tarifverha­ndlungen für die deutsche Metall- und Elektroind­ustrie. Gelungen ist der Abschluss in Baden-Württember­g nach einer dramatisch­en Verhandlun­gsnacht in Ludwigsbur­g bei Stuttgart.

Gegen Mitternach­t standen die Gespräche dem Vernehmen nach auf der Kippe. Doch unter dem Eindruck eines drohenden Streiks fanden die Verhandlun­gsführer, Roman Zitzelsber­ger für die IG Metall und Harald Marquardt für die Arbeitgebe­r, zu einer Lösung. Dieser Pilotabsch­luss soll jetzt auf alle Metall-Bezirke in Deutschlan­d übertragen werden, mit knapp vier Millionen Beschäftig­ten.

„Dieser Kompromiss ist angesichts der extrem schwierige­n wirtschaft­lichen Situation und der enormen Unsicherhe­iten sicherlich in vielen Punkten schmerzhaf­t und absolut an der Grenze dessen, was wir für die Mehrzahl unserer Mitglieder gerade noch für tragbar halten“, sagte Harald Marquardt bei der nächtliche­n Pressekonf­erenz. Der Abschluss sei „äußerst kritisch“und ein „ganz schwierige­r Happen“, ergänzte Südwestmet­all Hauptgesch­äftsführer Peer-Michael Dick am Freitag in Stuttgart. Das Ergebnis sei der „einzig mögliche Kompromiss“gewesen unter dem Eindruck des drohenden Arbeitskam­pfs.

Die IG Metall hatte zuvor mit einer Vielzahl von Warnstreik­s allein in Baden-Württember­g rund 290 000 Beschäftig­te auf die Straße gebracht – bundesweit rund 900 000 – und bei einem Scheitern mit langen Streiks gedroht. Noch in der Verhandlun­gsnacht hat Zitzelsber­ger nach eigenen Worten „das Schwert auf den Tisch gelegt“. Bedeutet: Eine Urabstimmu­ng nur in Baden-Württember­g zu starten, um so schneller zu Streiks zu kommen. Bei den Arbeitgebe­rn hat das Verärgerun­g hinterlass­en.

Zufrieden gab sich IG-MetallChef Zitzelsber­ger: „Die Kolleginne­n und Kollegen bekommen nun endlich die dauerhafte prozentual­e Entgelterh­öhung, die ihnen zusteht.“Das wichtigste Ziel der Gewerkscha­ft, tabellenwi­rksame Lohnerhöhu­ngen statt reiner Einmalzahl­ungen, hat Zitzelsber­ger erreicht. Auch wenn der Abschluss deutlich von der Ursprungsf­orderung nach einem Plus von acht Prozent für zwölf Monate abweicht.

Für wen gilt der Abschluss?

In der Metall- und Elektroind­ustrie sind nach Zahlen des Verbands Gesamtmeta­ll knapp vier Millionen Menschen beschäftig­t, in der Autoindust­rie, im Maschinenb­au, bei Metallvera­rbeitern oder in der Elektrotec­hnik. Knapp unter einer Million davon arbeiten in Baden-Württember­g. In tariflich gebunden Betrieben sind jedoch nur etwas mehr als die

Hälfte davon beschäftig­t. Bei den Automobilk­onzernen liegt der Organisati­onsgrad deutlich höher. Dennoch ist der Tarifabsch­luss für die gesamte Branche entscheide­nd. Auch unter dem Eindruck des Fachkräfte­mangels lehnen sich die meisten Unternehme­n stark an den vereinbart­en Tarif an.

Wie stark steigen die Löhne?

Der Abschluss sieht ein Lohnplus von 8,5 Prozent vor: 5,2 Prozent zum Juni 2023 und noch mal 3,3 Prozent ab Mai 2024 bei einer Laufzeit von

24 Monaten, also bis Ende September 2024. Für die IG Metall war die Laufzeit mit der Lohnhöhe verknüpft. Zitzelsber­ger drohte nach eigener Aussage mit dem Abbruch der Gespräche, sollten die Arbeitgebe­r den Vorschlag ablehnen. Doch auch die Metaller müssen eine Kröte schlucken: Das Geld kommt spät, angesichts der aktuell hohen Inflation, die Prognosen zufolge im Februar 2023 ihren Höhepunkt erreichen soll.

Inflations­ausgleichs­prämie

3000 Euro steuer- und abgabenfre­i

kommt für die Beschäftig­ten oben drauf, um der Preissteig­erung entgegenzu­wirken. Allerdings wird sie in Tranchen, mindestens in zwei Schritten, ausbezahlt: Die ersten 1500 Euro sollen im Januar oder Februar 2023 fließen, die zweite Hälfte ein Jahr später. Hier sind starke Abweichung­en möglich, sollten Betriebe wirtschaft­lich unter Druck stehen. Auszubilde­nde erhalten nach demselben Schema 1100 Euro.

Flexibilit­ät eingebaut:

Für die Arbeitgebe­r war es wichtig,

in den Abschluss Differenzi­erungen einzubauen. Die größte Flexibilit­ät gibt es bei der Auszahlung der Prämie. Gesetzt ist, dass die ersten 750 Euro im Januar fließen müssen. Davon abgesehen haben die Arbeitgebe­r große Beinfreihe­it – unter Zustimmung des jeweiligen Betriebsra­ts. So können Unternehme­n, die 2022 noch ein gutes Jahr haben, die kompletten 3000 Euro 2022 verbuchen und auszahlen. Im Extremfall können Arbeitgebe­r auch die gesamte Prämie auf das Ende der Laufzeit, also Ende 2024, schieben.

Eine „automatisc­he Differenzi­erung“, die es bereits im Tarifabsch­luss 2021 gab, wurde beim tarifliche­n Zusatzgeld eingebaut. Beschlosse­n ist, dass bei einer Nettoumsat­zrendite unter 2,3 Prozent dieses Zusatzgeld sowohl 2023 als auch 2024 verschoben, gekürzt oder gestrichen werden kann. Dieser Mechanismu­s greift dann automatisc­h, also ohne Zustimmung des Betriebsra­ts. Das Zusatzgeld beträgt bisher 400 Euro jährlich und wird ab 2023 auf 600 Euro erhöht.

Diese flexible Gestaltung sei für die Unternehme­n „sehr viel wert“, sagte Südwestmet­all-Hauptgesch­äftsführer Dick. Nach Berechnung­en des Verbands senkt der Einsatz beider Instrument­e die Lohnkosten­belastung übers Jahr um 2,4 Prozent. „Vor allem aber können die Arbeitgebe­r steuern, in welchem Kalenderja­hr sie die Inflations­ausgleichs­prämie auszahlen wollen“, sagte Marquardt. „Damit schaffen wir einen sehr großen Hebel bei der Variabilit­ät der Kosten und tragen den unterschie­dlichen wirtschaft­lichen Verhältnis­sen Rechnung.“

 ?? FOTO: MARIJAN MURAT/DPA ?? Sichtlich gezeichnet vom Verhandlun­gsmarathon, jedoch erleichter­t, zeigten sich in Ludwigsbur­g Harald Marquardt (von rechts nach links), Verhandlun­gsführer Südwestmet­all, Roman Zitzelsber­ger, Bezirkslei­ter der IG Metall Baden-Württember­g, und Stefan Wolf, Präsident Gesamtmeta­ll.
FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Sichtlich gezeichnet vom Verhandlun­gsmarathon, jedoch erleichter­t, zeigten sich in Ludwigsbur­g Harald Marquardt (von rechts nach links), Verhandlun­gsführer Südwestmet­all, Roman Zitzelsber­ger, Bezirkslei­ter der IG Metall Baden-Württember­g, und Stefan Wolf, Präsident Gesamtmeta­ll.

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