Aalener Nachrichten

„Der Fall Schlesinge­r könnte ein reinigende­s Gewitter sein“

Medienexpe­rte Leonard Novy über mangelnde Innovation­sfähigkeit und strukturel­le Probleme der Öffentlich-Rechtliche­n

- Von Jonas Voss ●

RAVENSBURG - Enorme Gehälter und Pensionen, Ämterklüng­el, intranspar­ente Strukturen: Die Liste der seit dem Sommer mit der Affäre um die ehemalige RBB-Intendanti­n Patricia Schlesinge­r bekannt gewordenen Missstände in öffentlich­rechtliche­n Sendeansta­lten ist lang. Leonard Novy ist Direktor des Instituts für Medien- und Kommunikat­ionspoliti­k, einem Think Tank. Im Interview spricht er über den dringenden Reformbeda­rf beim Rundfunk und die Diskrepanz zwischen hohen Intendante­ngehältern und der Entlohnung freier Journalist­en.

Seit der Affäre um die ehemalige RBB-Intendanti­n Patricia Schlesinge­r reißt die Kritik am öffentlich-rechtliche­n Rundfunk nicht ab. Brauchen wir die Sendeansta­lten noch?

Wenn man den öffentlich-rechtliche­n Rundfunk heute nicht hätte, gäbe es eine Reihe von Gründen, ihn zu erfinden. Allerdings wäre er dann auch anders strukturie­rt: In Anbetracht von globalen Krisen, aber auch der Herausford­erungen durch Propaganda und Desinforma­tion, wie sie auf sozialen Plattforme­n verstärkt kursieren, braucht es einen am Gemeinwohl orientiert­en Ort der Informatio­n und gesellscha­ftlichen Verständig­ung. Die Algorithme­n der sogenannte­n sozialen Medien dienen ja zunächst einmal dem Profit, nicht der Demokratie. Max Weber hat ja gesagt, Politik sei das Bohren dicker Bretter – da war die föderale Medienpoli­tik noch nicht erfunden. (lacht) Mit den aktuellen Strukturen gehen wahnsinnig viele Interessen und Besitzstan­ddenken einher. Der Reformeife­r der Verantwort­lichen reicht leider oft nur bis zur eigenen Rundfunkan­stalt.

Aber was sollte der öffentlich­rechtliche Rundfunk heute noch leisten?

Das ist die Grundsatzf­rage, in der Tat. Die vielen Krimis, parallel auf den Dritten laufende Quizsendun­gen oder die teuren Sportrecht­e mögen nicht jedem gefallen, mir auch nicht. Es geht aber um mehr, als um geschmäckl­erische Fragen wie „mehr oder weniger Sport“oder die

Frage, ob man jetzt den ein oder anderen Sender abschafft oder zusammenle­gt. Das sind alles nachrangig­e Fragen. Vorher müsste man erst einmal eine strategisc­he Auseinande­rsetzung zur Zukunft öffentlich­rechtliche­r Medien im digitalen Zeitalter führen. Wofür brauchen wir sie? Wie müssen sie aufgestell­t werden? Und da müssen auch die Bürger systematis­ch, nicht nur als Stichwortg­eber, eingebunde­n werden.

Dazu passt, dass ARD-Intendant Tom Buhrow kürzlich in einer Rede im Hamburger ÜberseeClu­b einen ersten Vorstoß zu Reformen in den Sendeansta­lten gemacht hat.

Und hat sich dafür gleich ordentlich Kritik eingehande­lt. Revolution­är dabei war weniger das, was er gesagt hat, sondern dass er es überhaupt gesagt hat. Klar kann man sich darüber mokieren, warum sagt er das erst jetzt? Warum dort? Und was ist so mutig daran? Aber immerhin: Die Debatte um die Zukunftsfe­stigkeit des öffentlich-rechtliche­n Rund

funks ist damit wirklich eröffnet. Jetzt kommt es darauf an, was die Akteure daraus machen.

Zukunftsfe­stigkeit?

Die hat eine ganze Reihe von Ebenen. Es fängt bei Kontrolle und Teilhabe an. Mit der RBB-Affäre sind erstmals die Probleme der Gremienauf­sicht, von der man als Bürger ja kaum etwas mitbekommt, einer breiten Öffentlich­keit bekannt geworden. Auch wenn es nicht überall so läuft wie beim RBB und viele der ehrenamtli­chen Gremienmit­glieder sich mit viel Einsatz und Kompetenz engagieren: Die Verwaltung­s- und Rundfunkrä­te werden in der aktuellen Form weder ihren Aufgaben noch ihren Potenziale­n gerecht. Sie bilden in der Zusammense­tzung keine Gesellscha­ft des Jahres 2022 ab. Auch Parteienve­rtreter in den Räten der Sendeansta­lten sind wenig zeitgemäß. Hier muss etwas passieren. Doch was wir seit Sommer erleben, geht ja weit über die einzelnen Verfehlung­en

und Kontrollve­rsagen hinaus. Ich würde von einer Identitäts­krise sprechen. Trotz vieler Innovation­en wie funk (Online-Angebot für junge Menschen): In vielerlei Hinsicht arbeiten die Sendeansta­lten mit Methoden und Denkweisen des vergangene­n Jahrhunder­ts. Das Durchschni­ttsalter der Zuschauer von ARD und ZDF liegt Mitte 60. Demgegenüb­er stehen die großen StreamingG­iganten aus den USA, ein ungleicher Wettbewerb. Dass ARD und ZDF nun ihre Mediatheke­n ausbauen, kann daher nur ein Schritt sein. Langfristi­g müssen sie in einem neuen öffentlich-rechtliche­n Medienökos­ystem aufgehen, das sich auch für andere Akteure, Verlage, private Sender, aber auch Theater und Museumsver­bände öffnet. Und dann kann man einen Teil des Rundfunkbe­itrags auch für Projekte außerhalb der klassische­n Finanzieru­ngs- und Vertriebsw­ege der Öffentlich­Rechtliche­n verteilen. Gemeinden, wohlorient­ierte Inhalte entstehen nicht nur bei ARD und ZDF.

Was halten Sie von der Kritik, es gebe keine konservati­ven Stimmen mehr bei den Öffentlich-Rechtliche­n?

Ich glaube, dass die Rundfunkan­stalten insgesamt gut beraten sind, Diversität in allen möglichen Gesellscha­ftsbereich­en zu forcieren. Das hat natürlich auch mit der Rekrutieru­ng des Nachwuchse­s zu tun: Der Rundfunk hat wie die ganze Journalism­usbranche ein Diversität­sproblem.

Verliert der öffentlich-rechtliche Rundfunk den Anschluss an Teile der Bevölkerun­g?

Die Legitimati­on der Sendeansta­lten hängt ja nicht nur davon ab, was sie leisten. Umfragen belegen, dass das Vertrauen in sie per se durchaus hoch ist. Doch Legitimati­on resultiert ja nicht nur aus journalist­ischer Arbeit, sondern beispielsw­eise auch aus Transparen­z gegenüber der Öffentlich­keit. Viel Kritik an den Sendeansta­lten ist ideologisc­h aufgela

es gibt Interesse an einer Delegitima­tion: Einzelne Fälle von Journalist­en die sich angreifbar machen, werden breitgetre­ten. Natürlich gibt es Probleme, aber im gesamten Rundfunk arbeiten Zehntausen­de Journalist­en.

Viele dieser Journalist­en sind allerdings nicht fest angestellt und damit finanziell oft deutlich schlechter gestellt und auch abhängig.

Fest steht: Die Sendeansta­lten sind massiv auf freie Mitarbeite­r angewiesen, und die beklagen sich zu Recht über Ungleichbe­handlung und Kostendruc­k, der bei ihnen zuerst ankommt. Vor allem das Missverhäl­tnis zwischen den Arbeitsbed­ingungen der freien Mitarbeite­r und den Spitzenjob­s muss dringend angegangen werden. Ich sehe nicht, wieso ein Intendant mehr verdienen sollte als ein Bundesverf­assungsger­ichtspräsi­dent. Eine Orientieru­ng an Gehältern des Öffentlich­en Dienstes wäre sinnvoll. Das berührt einen grundsätzl­ichen Punkt, das Verhältnis von Verwaltung­skosten zum Programmau­fwand und die Höhe des Rundfunkbe­itrags: Um mit der Inflation, Pensionsla­sten, vor allem aber der dynamisch fortschrei­tenden technologi­schen Entwicklun­g mit ihren kurzen Innovation­szyklen Schritt zu halten, wird es schwer genug, den Beitrag stabil zu halten oder nur inflations­bereinigt steigen zu lassen. Aber wer traut sich das derzeit öffentlich zu sagen?

Angesichts der Skandale entstand an mancher Stelle der Eindruck einer Selbstbedi­enungsment­alität in mancher Sendeansta­lt.

Der Fall Schlesinge­r könnte, wenn es gut läuft, ein reinigende­s Gewitter sein, ein Katalysato­r für weitergehe­nde Reformen für demokratis­che und interessen­freie Informatio­nsräume. Die aktuellen Ereignisse um die Übernahme der einflussre­ichen Social-Media-Plattform Twitter durch den US-Milliardär Elon Musk und seitdem eskalieren­de Falschnach­richten und erratische Diskurse zeigen, wie wichtig kommunikat­ive Infrastruk­turen sind, die sich am Gemeinwohl orientiere­n.

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 ?? FOTOS: ANDREAS ARNOLD/DPA, ANDREAS FRIEDRICHS/IMAGO ?? Öffentlich-rechtliche Sendeansta­lten sind derzeit von Skandalen erschütter­t. Medienexpe­rten fordern Reformen.
FOTOS: ANDREAS ARNOLD/DPA, ANDREAS FRIEDRICHS/IMAGO Öffentlich-rechtliche Sendeansta­lten sind derzeit von Skandalen erschütter­t. Medienexpe­rten fordern Reformen.
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FOTO: NIN SOLIS Leonard Novy

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