Aalener Nachrichten

WM der Widersprüc­he

Umstritten­ste Weltmeiste­rschaft der Geschichte startet mit viel Getöse – Das sind die Favoriten, Superstars, Stadien und Probleme

- Von Martin Deck und unseren Agenturen

- Als Boris Becker 1993 erstmals in der Wüste aufschlug, spielte er nicht nur Tennis. Als Gesicht der Qatar Open stieg der damals 25 Jahre alte Sportstar in Sandalen auf ein Kamel, präsentier­te sich inmitten einer Ödnis aus Sand und Staub mit einer Kufiya auf dem Kopf – und richtete zur Krönung seines offenbar fürstlich bezahlten PR-Auftritts warme Worte an die Gastgeber. Für Katar war das Turnier in Doha der Auftakt eines milliarden­schweren Masterplan­s für den Sport, der in diesen Tagen den vorläufige­n Höhepunkt erreicht. Die Fußball-Weltmeiste­rschaft soll den kleinen Wüstenstaa­t endgültig im Kreis der Mächtigen der Welt zementiere­n.

Die Fifa jedenfalls ist gewillt, dem Emirat bei diesem Plan als fürstlich entlohnter Steigbügel­halter zu helfen. Man werde „die größte Show der Welt“bieten, versprach Weltverban­ds-Präsident Gianni Infantino bei der Auslosung der Vorrundeng­ruppen vollmundig und setzte zugleich noch einen drauf: „Zusammen werden wir die beste WM aller Zeiten liefern – auf und neben dem Platz.“Während Infantino und die Fifa Katar und die Wüsten-WM

seit der Vergabe im Jahr 2010 in höchsten Tönen loben und vehement gegen jegliche Kritik verteidige­n, hat die Empörung über das Turnier im autokratis­chen Emirat wenige Tage vor dem Anpfiff wohl ihren vorläufige­n Höhepunkt erreicht.

Die Welt blickt in den kommenden vier Wochen auf das vermutlich umstritten­ste Sportereig­nis aller Zeiten. Wohl noch nie war die Kluft zwischen der sportliche­n Attraktivi­tät und der Ablehnung der politische­n Werte im Gastgeberl­and so groß wie bei dieser WM – und das trotz Olympische­r Spiele in Peking. Zur besseren Orientieru­ng gibt die „Schwäbisch­e Zeitung“einen Überblick über die wichtigste­n sportliche­n und politische­n Diskussion­spunkte:

Die Favoriten:

Die Buchmacher sind sich einig: Der Pokal geht nach Südamerika. Obwohl die letzten vier WM-Turniere allesamt von europäisch­en Teams gewonnen wurden, gelten dieses Mal Rekord-Weltmeiste­r Brasilien und Argentinie­n als die großen Favoriten auf den Titel – auch aufgrund der klimatisch­en Bedingunge­n. Die europäisch­en Schwergewi­chte wie Titelverte­idiger Frankreich, Spanien, Deutschlan­d, die Niederland­e, England, Belgien oder Portugal zählen nur zum erweiterte­n Favoritenk­reis. Übrigens: Die letzte erfolgreic­he Titelverte­idigung liegt 60 Jahre zurück (Brasilien), bei den vergangene­n WMTurniere­n schieden die Weltmeiste­r jeweils früh aus.

Die Superstars: Das Drehbuch ist längst geschriebe­n, bei seiner fünften Weltmeiste­rschaft soll nun endlich auch das Happy End hinzukomme­n: Lionel Messi will Argentinie­n ein Jahr nach dem langersehn­ten Triumph bei der Copa America endlich auch zum WM-Pokal führen. Mit 35 Jahren wird es für den Größten der Geschichte – wie viele ihn bereits sehen – wohl die letzte Chance auf den größten Titel seiner Sportart. Auch Messis langjährig­er Rivale Cristiano Ronaldo wird in Katar vermutlich zum letzten Mal um Weltmeiste­r-Ehren spielen. Doch die nächste Generation steht schon bereit. Neben den spanischen Wunderkind­ern Gavi (18) und Pedri (19) hat auch die DFB-Auswahl einen heißen Anwärter auf den Titel „Shootingst­ar des Turniers“in ihren Reihen. Jamal Musiala könnte in Katar gelingen, was Frankreich­s Kylian Mbappé vor vier Jahren in Russland schaffte – sich weltweit einen Namen machen. „Klar, bei einer WM schauen alle drauf und man kann der Welt zeigen, welche

Qualitäten man hat“, sagte der 19-jährige Mittelfeld­spieler von Bayern München. Auch Englands Jude Bellingham (19), der Brasiliane­r Rodrygo (21) oder Enzo Fernandez (21) aus Argentinie­n könnten weiter auf sich aufmerksam machen.

Die Stadien: Ohne Frage, die acht Arenen der 22. Fußball-WM machen optisch einiges her. Sei es das Lusail Stadium, das an eine traditione­lle Fanar-Laterne angelehnt ist und in dem am 18. Dezember das Finale stattfinde­t, oder das al-Janoub Stadium, das an eine Muschel erinnert. Kritik gab es allerdings schon von Beginn an: Statt der von der Fifa normalerwe­ise geforderte­n zwölf Stadien wurde für Katar eine Ausnahme gemacht: Gespielt wird nun in acht Arenen, von denen sechs komplett neu gebaut werden mussten. Geschätzte Baukosten: mehr als 5 Milliarden Euro. Fast alle Stadien sollen nach der WM verkleiner­t werden. Unter anderem ist angekündig­t, dann nicht mehr benötigte Einrichtun­gen wie etwa Sitze an (Fußball-)Entwicklun­gsländer weiterzure­ichen. Das Stadium 974, das aus 974 Schiffscon­tainern errichtet wurde, soll nach der WM sogar ganz abgebaut und andernorts wieder aufgebaut werden.

Die Klima-Debatte: Sechs neu errichtete Stadien, größtentei­ls voll klimatisie­rt. Pendelflüg­e für Fans, die keine Unterkunft finden. Das alles in einem Land, das 2019 die schlechtes­te CO2-Bilanz weltweit aufwies – angesichts dieser Fakten ist nur schwer zu glauben, was die Fifa seit Jahren propagiert: Die Endrunde in Katar werde die erste klimaneutr­ale WM überhaupt. Das Turnier punkte vor allem durch kurze Wege, energieeff­iziente Klimatisie­rung und emissionsa­rmes Wasser- und Abfallmana­gement. Die Organisato­ren rechnen mit einem Gesamtauss­toß von insgesamt 3,6 Millionen Tonnen CO2 – 95 Prozent davon verursacht durch Verkehr und den Bau von Infrastruk­tur. Zur Kompensati­on wurden im Laufe der WM-Bauarbeite­n rund eine Million Bäume gepflanzt – die wegen der enormen Hitze jedoch bewässert werden müssen. Nicht nur deshalb bezweifeln namhafte Umweltorga­nisationen die Zahlen der Organisato­ren: „Diese WM ist sicherlich alles, aber nicht umweltfreu­ndlich“, betonte Thomas Fischer von der Deutschen Umwelthilf­e (DUH). Es sei aufgrund der klimatisch­en Bedingunge­n und dem Bau der Infrastruk­tur „eher damit zu rechnen, dass es eine der unökologis­chsten Weltmeiste­rschaften aller Zeiten wird“.

Die Brennpunkt­e: Die Aussagen von Khalid Salman ließen tief blicken. Als „geistigen Schaden“bezeichnet­e Katars WM-Botschafte­r Homosexual­ität – und ließ die Verspreche­n der vergangene­n Wochen wie reine Lippenbeke­nntnisse wirken. Menschenre­chtsorgani­sationen bemängelte­n in den vergangene­n Jahren und Monaten immer wieder die Unterdrück­ung von Homosexuel­len und Frauen in Katar – und den kaum spürbaren Fortschrit­t. Laut Human Rights Watch werden Menschenre­chte in Katar weiterhin „mit Füßen getreten“.

Zudem steht das Emirat für die Ausbeutung der rund 2 Millionen Gastarbeit­er massiv in der Kritik. Viele von diesen haben ihr Leben in Zusammenha­ng mit den Bauarbeite­n für die WM verloren – wie viele, das ist bis heute unklar. Die Fifa und Katar verbreiten die Zahl von drei Todesfälle­n auf WMBaustell­en, Menschenre­chtsorgani­sationen gehen von Tausenden Toten aus. Viele Todesfälle, auch auf WMBaustell­en, seien niemals aufgeklärt worden. Vor der anstehende­n Endrunde werden Forderunge­n nach einem Entschädig­ungsfonds für die Hinterblie­benen immer lauter. Die Fifa kündigte an, nach Lösungen zu suchen. Bleibt abzuwarten, was von diesen Worten nach der WM bleibt.

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FOTOS: DPA/IMAGO/AFP; COLLAGE: SCHWÄBISCH­E ZEITUNG

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