WM der Widersprüche
Umstrittenste Weltmeisterschaft der Geschichte startet mit viel Getöse – Das sind die Favoriten, Superstars, Stadien und Probleme
- Als Boris Becker 1993 erstmals in der Wüste aufschlug, spielte er nicht nur Tennis. Als Gesicht der Qatar Open stieg der damals 25 Jahre alte Sportstar in Sandalen auf ein Kamel, präsentierte sich inmitten einer Ödnis aus Sand und Staub mit einer Kufiya auf dem Kopf – und richtete zur Krönung seines offenbar fürstlich bezahlten PR-Auftritts warme Worte an die Gastgeber. Für Katar war das Turnier in Doha der Auftakt eines milliardenschweren Masterplans für den Sport, der in diesen Tagen den vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die Fußball-Weltmeisterschaft soll den kleinen Wüstenstaat endgültig im Kreis der Mächtigen der Welt zementieren.
Die Fifa jedenfalls ist gewillt, dem Emirat bei diesem Plan als fürstlich entlohnter Steigbügelhalter zu helfen. Man werde „die größte Show der Welt“bieten, versprach Weltverbands-Präsident Gianni Infantino bei der Auslosung der Vorrundengruppen vollmundig und setzte zugleich noch einen drauf: „Zusammen werden wir die beste WM aller Zeiten liefern – auf und neben dem Platz.“Während Infantino und die Fifa Katar und die Wüsten-WM
seit der Vergabe im Jahr 2010 in höchsten Tönen loben und vehement gegen jegliche Kritik verteidigen, hat die Empörung über das Turnier im autokratischen Emirat wenige Tage vor dem Anpfiff wohl ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht.
Die Welt blickt in den kommenden vier Wochen auf das vermutlich umstrittenste Sportereignis aller Zeiten. Wohl noch nie war die Kluft zwischen der sportlichen Attraktivität und der Ablehnung der politischen Werte im Gastgeberland so groß wie bei dieser WM – und das trotz Olympischer Spiele in Peking. Zur besseren Orientierung gibt die „Schwäbische Zeitung“einen Überblick über die wichtigsten sportlichen und politischen Diskussionspunkte:
Die Favoriten:
Die Buchmacher sind sich einig: Der Pokal geht nach Südamerika. Obwohl die letzten vier WM-Turniere allesamt von europäischen Teams gewonnen wurden, gelten dieses Mal Rekord-Weltmeister Brasilien und Argentinien als die großen Favoriten auf den Titel – auch aufgrund der klimatischen Bedingungen. Die europäischen Schwergewichte wie Titelverteidiger Frankreich, Spanien, Deutschland, die Niederlande, England, Belgien oder Portugal zählen nur zum erweiterten Favoritenkreis. Übrigens: Die letzte erfolgreiche Titelverteidigung liegt 60 Jahre zurück (Brasilien), bei den vergangenen WMTurnieren schieden die Weltmeister jeweils früh aus.
Die Superstars: Das Drehbuch ist längst geschrieben, bei seiner fünften Weltmeisterschaft soll nun endlich auch das Happy End hinzukommen: Lionel Messi will Argentinien ein Jahr nach dem langersehnten Triumph bei der Copa America endlich auch zum WM-Pokal führen. Mit 35 Jahren wird es für den Größten der Geschichte – wie viele ihn bereits sehen – wohl die letzte Chance auf den größten Titel seiner Sportart. Auch Messis langjähriger Rivale Cristiano Ronaldo wird in Katar vermutlich zum letzten Mal um Weltmeister-Ehren spielen. Doch die nächste Generation steht schon bereit. Neben den spanischen Wunderkindern Gavi (18) und Pedri (19) hat auch die DFB-Auswahl einen heißen Anwärter auf den Titel „Shootingstar des Turniers“in ihren Reihen. Jamal Musiala könnte in Katar gelingen, was Frankreichs Kylian Mbappé vor vier Jahren in Russland schaffte – sich weltweit einen Namen machen. „Klar, bei einer WM schauen alle drauf und man kann der Welt zeigen, welche
Qualitäten man hat“, sagte der 19-jährige Mittelfeldspieler von Bayern München. Auch Englands Jude Bellingham (19), der Brasilianer Rodrygo (21) oder Enzo Fernandez (21) aus Argentinien könnten weiter auf sich aufmerksam machen.
Die Stadien: Ohne Frage, die acht Arenen der 22. Fußball-WM machen optisch einiges her. Sei es das Lusail Stadium, das an eine traditionelle Fanar-Laterne angelehnt ist und in dem am 18. Dezember das Finale stattfindet, oder das al-Janoub Stadium, das an eine Muschel erinnert. Kritik gab es allerdings schon von Beginn an: Statt der von der Fifa normalerweise geforderten zwölf Stadien wurde für Katar eine Ausnahme gemacht: Gespielt wird nun in acht Arenen, von denen sechs komplett neu gebaut werden mussten. Geschätzte Baukosten: mehr als 5 Milliarden Euro. Fast alle Stadien sollen nach der WM verkleinert werden. Unter anderem ist angekündigt, dann nicht mehr benötigte Einrichtungen wie etwa Sitze an (Fußball-)Entwicklungsländer weiterzureichen. Das Stadium 974, das aus 974 Schiffscontainern errichtet wurde, soll nach der WM sogar ganz abgebaut und andernorts wieder aufgebaut werden.
Die Klima-Debatte: Sechs neu errichtete Stadien, größtenteils voll klimatisiert. Pendelflüge für Fans, die keine Unterkunft finden. Das alles in einem Land, das 2019 die schlechteste CO2-Bilanz weltweit aufwies – angesichts dieser Fakten ist nur schwer zu glauben, was die Fifa seit Jahren propagiert: Die Endrunde in Katar werde die erste klimaneutrale WM überhaupt. Das Turnier punkte vor allem durch kurze Wege, energieeffiziente Klimatisierung und emissionsarmes Wasser- und Abfallmanagement. Die Organisatoren rechnen mit einem Gesamtausstoß von insgesamt 3,6 Millionen Tonnen CO2 – 95 Prozent davon verursacht durch Verkehr und den Bau von Infrastruktur. Zur Kompensation wurden im Laufe der WM-Bauarbeiten rund eine Million Bäume gepflanzt – die wegen der enormen Hitze jedoch bewässert werden müssen. Nicht nur deshalb bezweifeln namhafte Umweltorganisationen die Zahlen der Organisatoren: „Diese WM ist sicherlich alles, aber nicht umweltfreundlich“, betonte Thomas Fischer von der Deutschen Umwelthilfe (DUH). Es sei aufgrund der klimatischen Bedingungen und dem Bau der Infrastruktur „eher damit zu rechnen, dass es eine der unökologischsten Weltmeisterschaften aller Zeiten wird“.
Die Brennpunkte: Die Aussagen von Khalid Salman ließen tief blicken. Als „geistigen Schaden“bezeichnete Katars WM-Botschafter Homosexualität – und ließ die Versprechen der vergangenen Wochen wie reine Lippenbekenntnisse wirken. Menschenrechtsorganisationen bemängelten in den vergangenen Jahren und Monaten immer wieder die Unterdrückung von Homosexuellen und Frauen in Katar – und den kaum spürbaren Fortschritt. Laut Human Rights Watch werden Menschenrechte in Katar weiterhin „mit Füßen getreten“.
Zudem steht das Emirat für die Ausbeutung der rund 2 Millionen Gastarbeiter massiv in der Kritik. Viele von diesen haben ihr Leben in Zusammenhang mit den Bauarbeiten für die WM verloren – wie viele, das ist bis heute unklar. Die Fifa und Katar verbreiten die Zahl von drei Todesfällen auf WMBaustellen, Menschenrechtsorganisationen gehen von Tausenden Toten aus. Viele Todesfälle, auch auf WMBaustellen, seien niemals aufgeklärt worden. Vor der anstehenden Endrunde werden Forderungen nach einem Entschädigungsfonds für die Hinterbliebenen immer lauter. Die Fifa kündigte an, nach Lösungen zu suchen. Bleibt abzuwarten, was von diesen Worten nach der WM bleibt.