„Es wird keine WM-Scham geben“
Fanforscher sieht das Katar-Turnier als individuelle Entscheidung jedes Fans – Titel in gewisser Sicht wertlos
RAVENSBURG - Fanmeilen, Autokorso, Rudelgucken – all das sucht man die kommenden Wochen wohl vergebens. Die Vorfreude der deutschen Fußballfans auf die Weltmeisterschaft in Katar ist weiterhin stark getrübt. Das geht aus einer repräsentativen Umfrage hervor, die mittels der App FanQ durchgeführt wurde. Mehr als die Hälfte der Befragten gab demnach an, sich „gar kein Spiel“während des Turniers anzusehen. Nur etwa jeder Zehnte plant, „die meisten Spiele“zu verfolgen, gut 17 Prozent wollen sich „nur die Deutschland-Spiele“angucken. Die „Schwäbische Zeitung“hat mit Studienentwickler Harald Lange (Foto: privat), Fanforscher und Professor für Sportwissenschaften an der Universität Würzburg, über die Ambivalenz im Umgang mit dem Großereignis gesprochen.
Herr Lange, freuen Sie sich schon auf die WM oder anders gefragt: Gehören Sie zum Team „Schauen“oder Team „Boykott“?
Weder noch. Ich sehe das Ganze sehr leidenschaftslos. Ich werde es schauen, aber nur aus beruflichen Gründen. Ich interessiere mich für die Atmosphäre vor Ort, für die Berichterstattung, für den Journalismus und möchte wissen, wie sich die FIFA dort in Szene setzt. Aber ich muss ehrlich sagen, dass mich das 1:0, also das rein Sportliche, nicht interessiert – und das erstmals, seitdem ich mich erinnern kann.
Die von Ihnen mitentwickelte Studie hat eine ähnliche Sichtweise unter den Fans herausgestellt. Glauben Sie denn wirklich, dass es so kommt, dass 54,9 Prozent der Fans kein einziges Spiel live verfolgen werden? Oder ist das nur eine das Gewissen beruhigende Aussage vorab?
Natürlich ist es erst einmal eine Momentaufnahme vor dem Turnier. Wie die Menschen dann tatsächlich handeln, wird sich erst am Tag der Spiele zeigen. Es gibt da wohl zwei Gruppen. Zum einen die Menschen, denen durch das ganze Drumherum jetzt wirklich die Lust am Fußball vergangen ist. Das sind die weniger gebundenen Fans, die meistens zu internationalen Meisterschaften einschalten und dann Deutschland-Fans sind. Davon sind viele nun des Fußballs überdrüssig und die machen in der Vorweihnachtszeit jetzt wirklich etwas anderes. Bei den gebundenen, echten, eingefleischten Fans wird die Kluft
zwischen der Aussage und dem tatsächlichen Verhalten allerdings auch nicht allzu groß sein. Ich erwarte insgesamt also spürbar Rückgänge in den Einschaltquoten.
Dürften die ganzen guten Vorsätze nicht dennoch schnell über Bord geworfen werden, sollte die deutsche Nationalmannschaft begeistern?
Da bin ich mir dieses Mal nicht so sicher. Der Missmut an der Fanbasis ist dafür eigentlich spürbar zu groß.
Kommt nach der Flugscham und der Heizscham nun die große Welle der WM-Scham, bei der Zuschauer ihre Begeisterung aufgrund des öffentlichen Bildes eher heimlich ausleben?
Sein Auto zu dekorieren, Fangesänge anzustimmen oder im Korso durch die Städte zu fahren, sind ja Ausdrücke von Freude. Ich glaube, dass die meisten überhaupt keinen Grund zur Freude sehen, egal was da in Katar passiert. Wer sich dennoch dazu hinreißen lässt, sein Auto zu schmücken, der braucht sich dafür aber nicht zu schämen, der macht das ja, weil er sich unterhalten lassen möchte. Die Erwartungshaltung bei denen, die boykottieren, so nehme ich es in Gesprächen wahr, ist aktuell ja keine missionarische. Eine WM-Scham wird es also nicht geben.
Dennoch ist hierzulande die Kritik an der WM sehr groß. Ist das in anderen Ländern ähnlich?
Der Protest ist in Deutschland schon sehr stark ausgeprägt. Das liegt aber daran, dass wir eine sehr kritische Fankultur haben – das hat man auch bei den Protesten in den Stadien in den vergangenen Jahren gesehen. In Europa ist das allgemein schon sehr ausgeprägt, wenn auch unterschiedlich stark. Dass die Quoten in Europa absacken, ist also zu erwarten. In Asien oder anderen Teilen der Welt kann es dagegen ganz anders aussehen. Das müssen die Entscheider dann hinterher selber sehen, ob sie ihre Ziele erfüllt haben. Da werden wir dann einige Gedankenakrobatik des Ausrichters und der Fifa erleben.
Die Fans in Deutschland scheinen aktuell so politisch wie nie. Müssen sie sich ankreiden lassen, die vergangenen Jahre zu wenig Druck aufgebaut zu haben? Immerhin wurde die Vergabe nach Katar schon 2010 verkündet.
Anfangs war das Wissen über Katar in der breiten Bevölkerung überhaupt nicht vorhanden, zudem gab es die vollmundigen Versprechen, dass das eine tolle WM wird, dass Menschenrechte geachtet werden und Reformen in Gang gesetzt werden. Das wird uns ja auch heute noch von höchster Stelle versichert. Selbst unsere Bundesinnenministerin hat ja ihre Teilnahme am ersten deutschen Spiel zugesagt, weil sie davon ausgeht, dass Reformen im Gange sind. Allerdings hat der Protest auch schon einiges bewirkt.
So machen sich etwa Sponsoren Gedanken, ob sie in dem Zusammenhang überhaupt sichtbar werden wollen und andere, die es diesmal boykottieren, werben etwa mit der Nichtunterstützung. Und selbst der DFB schloss sich der Forderung von Amnesty International an, einen Fonds für Hinterbliebene von Wanderarbeitern einzurichten. Das ist also schon eine der bemerkenswertesten Protestbewegungen in Deutschland der letzten Jahre.
Die allerdings auch etwas durch die Politik konterkariert wird, indem Politiker nach Katar fliegen und Handelsbeziehungen mit Katar eingetütet werden. Beschäftigt diese Doppelmoral auch die Fans?
Selbstverständlich weiß jeder, dass man hier mit zweierlei Maß messen kann. Da geht es einmal um wirtschaftliche Verflechtungen und dann um das Sportswashing, das mit der WM geschehen soll. Und Sport ist zumindest in den Köpfen der Fans etwas sehr Ideelles. Etwas, das mit Ethik und Moral geradezu aufgepumpt ist und da haben wir auch allerhöchste Erwartungen.
Nicht umsonst sehen es 70 Prozent der Fans als Selbstverständlichkeit, dass die Nationalspieler die Menschenrechtslage kritisieren sollten. Ist das aber nicht etwas zu viel Druck für die teilweise überforderten Sportler und eher etwas für die
Entscheider?
Nein, das ist etwas für die Spieler. Diese politischen Themen sind nicht kompliziert. Thomas Hitzlsperger etwa hat es in seiner Dokumentation auf den Punkt gebracht. Diese Filme sind rund um die Uhr verfügbar und da muss man kein politikwissenschaftliches Studium absolviert haben. Thomas Müller etwa hat kürzlich mit seiner Aussage „Auch in Deutschland gibt es Menschenrechtsverletzungen“etwas verbal danebengegriffen und kräftig auf die Mütze gekriegt. Daraus wird er gelernt und ein Informationsbedürfnis entwickelt haben. Das machen Tausende von Schülern aktuell und das kann man dann auch von Nationalspielern erwarten. Allerdings haben Sie auch recht, dass vor allem auch Fußballfunktionäre zu gesellschaftlichen Themen unmissverständlich Stellung beziehen sollten. Da hat der DFB mit Bernd Neuendorf aktuell zum Glück ein besseres Bild abgegeben als in den vergangenen Jahren – auch wenn ich mir hier noch mehr eigene Initiativen wünschen würde.
Wie verhalten sich denn die großen deutschen Fan-Organisationen während der Glühwein-WM?
Es gibt durch die aktive Fanszene eine Reihe von Alternativveranstaltungen. Diskussionsrunden, nostalgische Runden in Kneipen mit dem Schauen von alten WM-Spielen oder alternative Sportangebote. Das Entscheidende ist aber das Ignorieren des Ereignisses in Katar.
Das klingt weiter nach einem großen Traditionsbruch im Fußball. Ein Winter-Märchen ist also ausgeschlossen?
Wenn Deutschland wirklich den fünften Stern holen sollte, dann könnte man das beinahe nicht feiern und zelebrieren. Man würde den Titel mitnehmen, aber im Lichte des Leides, auf den Schultern der vielen verstorbenen Arbeiter möchte man das dann nicht genießen und durch die Straßen fahren. Ohnehin ist der WM-Titel in ideeller Hinsicht der wertloseste – wer auch immer ihn gewinnt. Bis dahin wird es allerdings von der Stimmung her eine einzigartig schlechte WM. Die Fans sind auch sauer, dass man ihnen dieses Ereignis geklaut hat. Es wäre also zu wünschen, dass die Fifa daraus ihre Lehren zieht. Allerdings traue ich dem Verband nicht zu, sich zu reformieren. Vielleicht wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, dass die Fifa für ihre exklusive Vermarktung des Weltfußballs sichtbar Konkurrenz bekommt. Die Bedingungen für eine Menschenrechte achtende, den Kommerz nicht in den Vordergrund rückende Organisation wäre jetzt so groß wie nie zuvor. Oder auch für alternative Fußballverbände insgesamt.