Aalener Nachrichten

Infantinos „explosive Tirade“

FIFA-Präsident teilt mit kurioser Rede gegen den Westen aus und erntet viel Kritik

- Von Jan Mies

DOHA (dpa) - Mit hochgekrem­pelten Ärmeln und breitem Grinsen erschien Gianni Infantino auf der großen Bühne. „Fühlt ihr euch gut?“, rief der FIFAPräsid­ent ohne Sakko am Samstagabe­nd in die feiernde Menge des Fanfests unter den Abendhimme­l von Doha. Dabei wirkte er noch ein Stück weit entrückter als wenige Stunden zuvor während seiner weltweit aufsehener­regenden, einstündig­en Rechtferti­gung im Pressezent­rum der höchst umstritten­en Fußball-WM in Katar, die ihn selbst irritieren­d viel hatte fühlen lassen.

„Heute fühle ich mich als Katarer, heute fühle ich mich als Araber, heute fühle ich mich afrikanisc­h. Heute fühle ich mich homosexuel­l. Heute fühle ich mich behindert, heute fühle ich mich als Arbeitsmig­rant“, sagte Infantino einleitend – und setzte damit die Tonalität einer Grundsatzr­ede gegen eine „Doppelmora­l“aus westlicher Richtung gegen Katar und für den WM-Gastgeber, den er praktisch von allen Vorwürfen freisprach. Kritisiert werden solle bitte er: „Hier bin ich, ihr könnt mich kreuzigen, dafür bin ich hier.“

Der Schweizer führte eine „explosive Tirade gegen westliche Kritik“, schrieb der US-Sender CNN. Auf seine Äußerungen über die angeblich schon sehr deutlich verbessert­en Lebensbedi­ngungen von Arbeitsmig­ranten gab es noch am Samstag eine deutliche Reaktion von Amnesty Internatio­nal. Deren Leiter der Abteilung für wirtschaft­liche, soziale und kulturelle Rechte, Steve Cockburn, sagte: „Indem Gianni Infantino berechtigt­e Kritik an der Menschenre­chtslage beiseitesc­hiebt, weist er den enormen Preis zurück, den Arbeitsmig­ranten zahlen mussten, um sein Flaggschif­f-Turnier zu ermögliche­n – sowie die Verantwort­ung der FIFA dafür.“

Am Sonntag, wenige Stunden vor dem Eröffnungs­spiel, traf sich die Elite der Nationalve­rbände im überaus edlen Fairmont Hotel. Wieder stand Infantino im Mittelpunk­t. Kopfschütt­eln war noch die gnädigste Reaktion auf die Pressekonf­erenz gewesen, wie ein hochrangig­er Funktionär der Europäisch­en Fußball-Union (UEFA) in der hell ausgeleuch­teten Lobby der Deutschen Presse-Agentur sagte. Infantino hatte, auch wenn er in einigen Punkten im Grundsatz valide Argumente anführte, das getan, was er am Westen kritisiert hatte: spalten.

„Als ich den FIFA-Präsidente­n gestern gesehen habe, war ich schockiert. Und ich habe mich in dem Moment

auch geschämt, ein Teil dieser Veranstalt­ung zu sein“, sagte Dänemarks Sportdirek­tor Peter Möller. „Ich fand es beschämend. Das ist der Mann, der das Bild des Fußballs prägt und der eigentlich zeigen könnte, was Fußball bewirken kann.“

Immer wieder hatte Infantino sein Sprechtemp­o gewechselt, kleine Pausen eingebaut. Einmal nahm er den vor ihm auf dem Podium im großen Saal des Qatar National Convention Centre gestellten Fußball in die Hand. „Das ist die einzige Waffe, die wir haben“, sagte er. Seine Botschafte­n zu Menschenre­chten, Arbeitsmig­ranten, der Freiheit für die LGBTQI+-Community wirkten lange zurechtgel­egt. „Die Welt ist gespalten genug, eine WM ist eine WM, das ist kein Krieg“, sagte Infantino. „Wir müssen uns kritisch im Spiegel betrachten.“

Katar war in den vergangene­n Jahren insbesonde­re aus westlichen Nationen stark kritisiert worden. Für Infantino, der seine eigene Geschichte als Sohn einer Gastarbeit­erfamilie in der Schweiz dazu in Zusammenha­ng setzte, auf eine „heuchleris­che“Art und Weise. „Ich denke, was wir Europäer in den vergangene­n 3000 Jahren weltweit gemacht haben, da sollten wir uns die nächsten 3000 Jahre entschuldi­gen, bevor wir anfangen, moralische Ratschläge an andere zu verteilen“, sagte der 52-Jährige. Es sei

„traurig“, diese „Doppelmora­l“erleben zu müssen.

Wie noch nie in den vergangene­n Monaten stellte sich der FIFA-Präsident an die Seite der Regierung des Landes, in dem er längst einen Nebenwohns­itz unterhält. Die Rede seines Vorgängers Joseph Blatter vor der WM 2014 in Brasilien, in der dieser von Fußball auf anderen Planeten fabuliert hatte, war nichts dagegen. „Wer kümmert sich um die Arbeiter? Wer? Die FIFA macht das, der Fußball macht das, die WM macht das – und, um gerecht zu sein, Katar macht es auch“, sagte Infantino und verwies unter anderem auf ein geplantes Büro der Internatio­nalen Arbeitsorg­anisation (IAO) in Doha. Er kündigte an, dass der sogenannte Legacy Fund, in den WM-Einnahmen fließen, globaler angelegt und damit vor allem Kinder aus der Armut geholt werden sollen. Ein kleiner „Hoffnungss­chimmer“, sagte Cockburn – aber eben nur, wenn ein „erhebliche­r Teil der sechs Milliarden US-Dollar“investiert werde.

„Wie viele dieser westlichen Unternehme­n, die hier Milliarden von Katar erhalten – wie viele von ihnen haben über die Rechte von Arbeitsmig­ranten gesprochen? Keiner von ihnen“, sagte Infantino, ohne Beispiele anzuführen. Die auch vom Deutschen Fußball-Bund geforderte­n Entschädig­ungsfonds für Arbeiter und deren Familien

aus Südasien gebe es bereits, wenn auch in anderer, von Katar initiierte­r Form. Er sei „überzeugt“, dass die WM helfen könne, Menschen „die Augen zu öffnen“.

Homosexual­ität sei in Katar zwar verboten, aber das sei in europäisch­en Ländern auch lange so gewesen, argumentie­rte Infantino und verwies auf einen laufenden Entwicklun­gsprozess. Er habe die klare Zusicherun­g bekommen, dass „jeder und jede, alle“zur WM in Katar willkommen seien. Einer der lokalen WM-Botschafte­r hatte zuletzt in einer ZDF-Dokumentat­ion Schwulsein als „geistigen Schaden“bezeichnet. Das sei nicht „die Haltung des Landes“, sagte Infantino, ohne konkret auf die Äußerung einzugehen.

Der FIFA-Präsident berichtete kurz von persönlich­en Anfeindung­en, sein Sprecher, der frühere britische Sky-Journalist Bryan Swanson, sprang ihm am Ende der Pressekonf­erenz zur Seite. „Es gab viel Kritik auch der LGBTQ-Gemeinscha­ft. Ich sitze hier als schwuler Mann und wir haben diese Garantie erhalten“, sagte der 42Jährige. Die FIFA kümmere sich um jeden. „Ich habe einige homosexuel­le Kollegen.“

Die Pressekonf­erenz endete, wie sie begonnen hatte: mit ungläubige­m Kopfschütt­eln der meisten der anwesenden 400 Journalist­en.

 ?? FOTO: NICK POTTS/IMAGO ?? Gianni Infantino sorgte mit seiner Pressekonf­erenz vor der WM-Eröffnung für große Irritation­en.
FOTO: NICK POTTS/IMAGO Gianni Infantino sorgte mit seiner Pressekonf­erenz vor der WM-Eröffnung für große Irritation­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany