Im Infantino-Populismus steckt ein Funken Wahrheit
Natürlich würde ein Populismusoder auch der Whataboutismusdetektor bei den Aussagen Gianni Infantinos signifikant ausschlagen. Doch täuscht das nicht darüber hinweg, dass der FIFA-Präsident mit seinen Aussagen all die Hyper-Moralapostel an einer wirklich empfindlichen Stelle trifft.
Denn während Europa unbestritten Jahrtausende benötigte, um gewisse moralische und gesetzliche Ebenen zu erreichen, kritisert man hierzulande gerne Gesellschaften, die sich in einer anderen Entwicklungsphase befinden. Damit wir uns richtig verstehen, auch ich bin dafür, dass Schwule und Lesben ihre Liebe offen leben dürfen, dass Arbeiter gut behandelt und anständig bezahlt werden, dass Frauen keine Nachteile gegenüber Männern haben – und doch ist der dauererhobene deutsche Zeigefinger nicht der Königsweg. Alle diejenigen, die kritisieren, sollten auch ihr eigenes Handeln stets mit gleichen Maßstäben messen beziehungsweise die eigene
Der Ort hätte nicht besser gewählt sein können: Das Kongresscenter von Doha, in das Gianni Infantino zur Eröffnungspressekonferenz geladen hatte, glich einem Kinosaal. Und der FIFA-Präsident bot in seinem 90-minütigen Rundumschlag großes Kino, in dem er selbst den wandlungsfähigen Hauptdarsteller mimte. Der Schweizer, der auf einem millionenschweren Konto sitzt und nur zu gerne mit Autokraten und Diktatoren kuschelt, schlüpfte innerhalb von Sekunden in die Rolle eines Katarers, eines Afrikaners, eines Schwulen und eines Arbeitsmigranten. Der mächtigste Fußballfunktionär des Planeten, der in der vergangenen Woche noch mit den Machthabern der Welt beim G20-Gipfel speiste, als Vertreter und Verteidiger der Vertriebenen und Gequälten? Kein Problem für den Laiendarsteller im Anzug. Schließlich könne er all die Probleme der in Katar unterdrückten Gruppen nachvollziehen, weil er früher, als rothaariges Kind mit Sommersprossen
Geschichte nicht ganz vergessen. Katar ist in der Golfregion bereits jetzt schon das offenste und fortschrittlichste Land und allein durch die
WM-Vergabe ist noch einmal einiges passiert. „Wir glauben, dass hier eine Menge Reformen stattgefunden haben“, sagt nicht zuletzt auch DFB-Boss Bernd Neuendorf. Die WM funktioniert also unbestritten als Entwicklungsbeschleuniger. Hinzu kommt, dass nicht jeder, der die WM genießt, zu einer moralisch verkommenen und ignoranten Minderheit gehört. Dass sich etwa die gesamte Südhalbkugel der Welt, inklusive der Fußballnationen Argentinien und Brasilien, endlich einmal über ein Sommerturnier freut, wird gern übersehen. Allgemein würde es in solchen Fragen helfen, zumindest zu versuchen, die sehr europäisch geprägte Brille ab und zu abzulegen – auch wenn es schwer fällt.
„Versuchen die Europa-Brille abzulegen.“Von Felix Alex
von den Schulkameraden gemobbt wurde. Was für eine Farce, was für ein Schlag ins Gesicht jener, die im WMGastgeberland in großer Angst leben und sogar um ihr Leben fürchten müssen.
Infantino leidet ganz offensichtlich unter Realitätsverlust. Wie sonst ist zu erklären, dass er versucht, sich selbst, die FIFA und Katar in die Opferrolle zu rücken? Der böse Gegenspieler: die gesamte westliche Welt. Natürlich hat der 52-Jährige nicht unrecht, wenn er daran erinnert, dass es auch in Europa über Jahrhunderte Menschenrechtsverletzungen gab. Aber man darf Unrecht von heute doch nicht mit vergangenen Verbrechen legitimieren. Absurder geht es nicht!
Als schales Ende dieses schlechten Films bleibt eine bittere Erkenntnis: Infantino hat das gemacht, was er den westlichen Medien und Politikern am lautesten vorwirft – gespalten.
„Infantino leidet unter Realitätsverlust.“Von Martin Deck