Schon wieder unter Druck
Nach der Niederlage gegen Japan droht der deutschen Nationalmannschaft ein frühes WM-Aus
(dpa) - Zeichen setzen – die Formulierung dieser Tage. Das ist der deutschen Nationalelf am Mittwoch in Doha nur rein moralisch gelungen. Sportlich setzte es ein Schockerlebnis. Nach der Führung durch das Elfmetertor von Ilkay Gündogan (33. Minute) drehten die Japaner das Spiel und gewannen dank der Treffer von Ritsu Doan (76.) und Takuma Asano (83.) mit 2:1. Somit ist gleich zum Auftakt der Worst Case für das DFB-Team eingetreten.
„Aberwitzig, dass wir mit einer Niederlage dastehen“, sagte Thomas Müller, der zugab „geschockt“und „ratlos“zu sein. Der Bayern-Profi ergänzte: „Die K.o.-Runde hat für uns früher begonnen. Jetzt haben wir gegen Spanien den Druck, den wir eigentlich vermeiden wollten. Wir brauchen jetzt zwei Siege. Aber zwei Siege kann man nicht einfach so bestellen.“
Durch die Pleite in Hansi Flicks allererstem Spiel als Chefcoach bei einem Turnier setzte sich die schwarze Auftaktserie aus den vergangenen beiden verbaselten Turnieren fort. Bei der WM 2018 in Russland (0:1 gegen Mexiko) und bei der EM im letzten Jahr (0:1 gegen Frankreich) ging das erste Gruppenspiel jeweils in die Hose, dadurch war sofort Druck in Sachen Punkteausbeute. Wie jetzt am Sonntag gegen Spanien. Bei einer weiteren Niederlage droht das vorzeitige WM-Aus. „Es ist brutal enttäuschend“, sagte Flick. „Die individuellen Fehler dürfen einfach nicht passieren. Wir haben einiges gutzumachen.“
Nach dem schwachen Defensivauftritt gegen die schnellen Japaner muss viel aufgearbeitet werden, zweimal wurde die DFB-Abwehr regelrecht übertölpelt. „Wir haben es den Japaner zu einfach gemacht“, schimpfte Gündogan in der ARD und meinte konsterniert: „Gerade das zweite Tor – ich weiß nicht, ob es jemals ein einfacheres Tor bei einer
Weltmeisterschaft gab. Das darf nicht passieren. Wir sind hier bei der WM.“Kollegenschelte, auch wenn nicht namentlich vorgenommen, ist teamintern eigentlich ein No-Go. Das klingt nach Besprechungsbedarf innerhalb der Mannschaft. Auch, weil Gündogan die Offensive anzählte. „Man hatte das Gefühl, dass nicht jeder den Ball immer haben wollte. Wir haben viel zu oft, zu einfach den Ball verloren.“Das gemeinsame Abendessen im Teamquartier nach der rund 70-minütigen Busfahrt zum „Zulal Wellness Resort“im Norden Katars dürfte wenig erbaulich gewesen sein.
Vor dem Anpfiff gab es mehrere handfeste Überraschungen. Zum einen eine symbolische: Beim Mannschaftsfoto hielten sich die deutschen Spieler mit den Händen die Münder zu. Eine demonstrative Reaktion auf das Verbot der „One Love“-Binde vonseiten der FIFA. Dazu twitterte der DFB: „Uns die Binde zu verbieten,
ist wie den Mund zu verbieten. Unsere Haltung steht.“Die Aktion, das teilte die Disziplinarkommission des Weltverbands am Mittwochabend nach einer Beratung mit, wird keine Folgen für die Mannschaft haben.
Überraschend war auch die Aufstellung. Nach dem Ausfall von Leroy Sané rückte Thomas Müller in die Startelf, obwohl sein letzter Einsatz von Beginn an im Bayern-Trikot vom 30. September datiert. Eine Punktlandung, nachdem der 33-Jährige erst am Samstag ins Teamtraining eingestiegen ist. Neben Sechser Joshua Kimmich agierte Gündogan und nicht Leon Goretzka. In der Viererabwehrkette erhielt Nico Schlotterbeck den Vorzug vor Thilo Kehrer, Niklas Süle verteidigte wie zuletzt beim BVB auf der rechten Seite. Auf der anderen Seite agierte Linksverteidiger David Raum im Ballbesitz wie ein Linksaußen. In der Rolle erhielt der Leipziger eine hervorragende Flanke von Kimmich. Raum schlug einen Haken, wurde von Japans Torwart Shuichi Gonda gelegt. Klarer Elfmeter. Nicht Müller, Gündogan verwandelte – wie alle sechs Elfer im DFB-Trikot zuvor.
Bis zur 60. Minute dominierte die Flick-Elf die Partie, mit viel Vorsicht im Spielaufbau, um die Konter der Japaner verhindern zu können. Doch eigene Chancen vergab man kläglich. Auf der anderen Seite konnte Keeper Manuel Neuer einige Male noch retten, doch dann traf Ritsu Doan vom SC Freiburg nach einer Hereingabe von Minamino, die der DFB-Kapitän nur nach vorne abklatschen konnte, zum Ausgleich (75.). Mehr und mehr übernahm die physisch fitter wirkenden Japaner die Szenerie, drückten aufs Tempo. Bochums Takuma Asano lief Schlotterbeck davon und traf zum 2:1. Süle hatte das Abseits aufgehoben. Der frühere Münchner hätte „die Linie halten“müssen, schimpfte Flick hinterher. „Da muss Niklas einfach aufpassen“. Das Urteil des Bundestrainer: „Das sind individuelle Fehler, für die wir büßen mussten.“
Dass eine deutsche Mannschaft bei einer WM zuletzt nach Halbzeitführung verloren hat, war 1978 in Argentinien, bei der legendären 2:3-Pleite in Córdoba gegen Österreich. In 21 Spielen danach passierte das nicht mehr. Damals, 1978, ging’s nach der Zwischenrunde nach Hause. Diesmal schon nach der Vorrunde? „Wir müssen die Spieler jetzt aufbauen. Jeder hat das im Kopf und wird sich ärgern“, sagte Flick. „Trotzdem muss man nach vorne blicken. Wir haben zwei Spiele, sechs Punkte sind zu vergeben, daran arbeiten wir.“