Aalener Nachrichten

Die biologisch­e Uhr tickt nicht

In Deutschlan­d haben sich mittlerwei­le über 1,5 Millionen Frauen sterilisie­ren lassen. Eine Schwangers­chaft ist damit für immer ausgeschlo­ssen. Warum sich junge Frauen für eine Operation entscheide­n.

- Von Verena Pauer

- Anne Rothbauer will keine Kinder. Das war ihr schon immer klar. Die Vorstellun­g, dass in ihr ein kleiner Mensch heranwachs­en könnte, versetzt sie in Unbehagen – so stark sogar, dass sie sagt, sie würde sich eher umbringen, als ein Kind auf die Welt zu bringen: „Ein Leben mit Kind ist das Allerschli­mmste, was hätte passieren können.“Ihre Einstellun­g ließ für die 31Jährige aus Spaichinge­n im Landkreis Tuttlingen deshalb nur eine Entscheidu­ng zu: Sie lässt sich sterilisie­ren.

Mit diesem Entschluss ist Rothbauer nicht allein. In Deutschlan­d sind ungefähr eineinhalb Millionen Frauen sterilisie­rt. Gründe dafür gibt es viele. Die Frauen entscheide­n sich mit diesem Schritt aber endgültig gegen Kinder oder weitere Kinder. Auch wenn Sterilisat­ionen wieder rückgängig gemacht werden können, die Quote für einen Erfolg liegt bei 30 bis 70 Prozent, abhängig vom Alter und der Fruchtbark­eit.

Anne Rothbauer ist diese Quote völlig egal. Sie weiß, dass die Mutterroll­e für sie keine Option ist. „Ich wäre keine gute Mutter“, ist sie überzeugt. „Ich brauche keinen Stein, der mich runterzieh­t.“Ihr ist wichtig, zu erwähnen, dass sie gut mit Kindern klarkomme. Windeln wechseln könne sie dank ihrer vier Nichten und Neffen blind. Es sei das Drumherum, das Schreien, das Hilflose, das der Friseurin zusetze – aber auch der körperlich­e Aspekt. „Wenn ich Schwangere sehe, muss ich weggucken. Das sieht aus wie kurz vor dem Platzen“, sagt Rothbauer. Mit ihrem Körper sei sie momentan zufrieden. Eine Schwangers­chaft würde den zerstören, ist sie sich sicher.

Schon vor der OP kommunizie­rte die 31-Jährige ihren Entschluss offen mit Familie und Freunden. Vor der Reaktion ihrer gläubigen Mutter hatte sie ein bisschen Angst, wie sie sagt. Doch die habe verständni­svoll reagiert. Sogar auf der Social-MediaPlatt­form Instagram sprach sie das Thema offen an. Obwohl ihre Schwester sie vor einem möglichen Shitstorm, vor Hassnachri­chten, warnte. Doch die blieben aus.

Jana B. möchte nicht mit vollem Namen genannt werden. Die Sozialarbe­iterin aus der Nähe von Stuttgart fürchtet, dass ihre Klientinne­n und Klienten sie komisch behandeln, wenn sie erfahren, dass sie sich hat sterilisie­ren lassen.

Ihre Familie wusste jedoch schon lange vor ihrem Eingriff, dass sie sich für diesen Weg entscheide­n würde. Trotzdem hätte die kurz schlucken müssen, als sie erfuhren, dass sie ihren Worten Taten folgen lassen werde, erinnert sich B.

Auch für die 29-Jährige stand die Entscheidu­ng schon lange fest – eigentlich ihr ganzes Leben. Verfestigt habe sich der Wunsch in der Pubertät. Ihr Beruf habe ihren Beschluss nur noch weiter verstärkt. „Ich habe das Gefühl, dass es nicht genug kompetente Eltern gibt für die vielen Kinder“, sagt sie. Ihre Arbeit mit Drogenabhä­ngigen und psychisch Kranken habe ihr eines gezeigt: Die Biografie – und damit auch die Eltern – habe meist einen großen Einfluss auf die Entwicklun­g der Menschen.

Die Verantwort­ung als Mutter sei eine sehr große, sagt B. Sie ist sich nicht sicher, ob sie der gewachsen wäre. Dazu komme die aktuelle politische Lage, Kriege und Klimakrise, und der Leistungsd­ruck, der schon auf kleine Kinder ausgeübt werde. Deswegen sagt sie: „Ein Kind zu bekommen ist die weitaus größere Entscheidu­ng als kein Kind zu bekommen.“

Ihre Ärztin musste B. erst noch überzeugen – obwohl sie sich seit vielen Jahren Gedanken zu dem Thema macht. Doch sie hat keine Kinder und war zum Zeitpunkt des Eingriffs mit 28 Jahren für ihre Ärztin noch sehr jung. Viele Ärzte würden ein Mindestalt­er von 30 Jahren und mehrere Kinder zur Bedingung für eine Sterilisat­ion nehmen, sagt Susanne Rau vom Verein Selbstbewu­sst steril. Ihr Verein möchte deshalb den Kontakt zu Ärzten herstellen, die die Operatione­n ausführen, und Frauen den Zugang zu Informatio­nen über Sterilisat­ionen erleichter­n. Denn es würden viele Mythen durchs Netz geistern, sagt Rau: „Nach einer Sterilisat­ion könnte es zu einer hormonelle­n Störung kommen. Man müsste Tabletten nehmen. Die Wechseljah­re kommen früher. Sterilisat­ion sei sittenwidr­ig. Das sei nicht erlaubt unter 35 und mit nicht mindestens zwei Kindern.“

Rothbauer habe keine Probleme bei der Arztsuche gehabt, sagt sie: „Die Ärztin hat gesagt, ich soll ihr fünf Gründe nennen, warum ich das machen will. Ich habe geantworte­t: Ich kann 100 nennen.“Damit sei das Gespräch erledigt gewesen. Dennoch kennt auch sie die Argumente, die Frauen ohne Kinderwuns­ch immer wieder zu hören bekommen. Ganz vorne mit dabei: „Warte nur, bis der Richtige kommt. Dann willst du schon Kinder haben.“Irgendwann beginne schließlic­h die biologisch­e Uhr zu ticken, ist ein weiteres Argument.

Doch die biologisch­e Uhr ticke nun einmal nicht bei allen Frauen, sagt Rau. Frauen, die den Wunsch äußern, sich sterilisie­ren zu lassen, würden von ihren

Ärzten manchmal auch von oben herab behandelt und nicht ernst genommen. Sie kenne auch Erzählunge­n von Frauen, die von ihrem Gynäkologe­n ausgelacht worden seien. Eine Frau habe ihr erzählt, dass sie sich habe sterilisie­ren lassen wollen, nachdem ihr zweites Kind geboren worden war. Ihr Arzt habe nur geantworte­t: „Aber was ist, wenn eines Ihrer Kinder stirbt?“Das sei einfach herzlos, findet Rau.

Etwa sechs Prozent der über 30Jährigen würden die Entscheidu­ng einer Sterilisat­ion laut Studie bereuen, heißt es in einer Antwort des Bundesverb­andes der Frauenärzt­e (BVF) auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“. Bei der Gruppe der Frauen unter 30 Jahren seien es im

Schnitt sogar 20 Prozent. Der Wunsch nach einem weiteren Kind werde als häufigster Grund genannt. Bei Frauen im Alter von 30 Jahren oder jünger, die noch keine Kinder bekommen haben, bereuen die Operation laut der zitierten US-Studie jedoch nur sechs Prozent. Mit Blick auf die psychische Komponente heißt es deshalb vom BVF: „Eine Sterilisat­ion sollte erst dann durchgefüh­rt werden, wenn die Familienpl­anung definitiv abgeschlos­sen ist und die ratsuchend­e Frau weitestgeh­end sicher ist, dass sie auch bei möglichen Veränderun­gen ihres Lebens, wie einer künftigen neuen Partnersch­aft, nicht doch noch auf natürliche­m Weg ein Kind bekommen möchte.“

Der Verband verweist neben psychische­n aber auch auf körperlich­e Risiken durch eine Sterilisat­ion. So könne es nicht nur zu Komplikati­onen während der Operation kommen. Danach sei noch immer eine Bauchhöhle­n- oder Eileitersc­hwangersch­aft möglich – dass sich also ein befruchtet­es Ei dort einnistet, weil es nicht mehr in die Gebärmutte­r gelangt. „Eine EileiterSt­erilisatio­n ist aus ärztlicher Sicht betrachtet ein medizinisc­h invasiver und folgenreic­her Eingriff in einen gesunden Körper“, ist in dem Schreiben zu lesen. In der Regel sei die Operation medizinisc­h nicht notwendig.

Vielmehr müsse zwischen dem Risiko einer Schwangers­chaft und Geburt und dem Risiko des Eingriffs abgewogen werden. Und da gibt es laut BVF einen Konsens in der Forschung: „Aus der Literatur geht hervor, dass vor dem 30. Lebensalte­r eine Sterilisat­ion nur dann durchgefüh­rt werden sollte, wenn medizinisc­he Gründe vorliegen.“Wer bis auf Weiteres keine Kinder bekommen wolle, könne beispielsw­eise mit Kupferoder Hormonspir­ale verhüten. Das habe den Vorteil, dass sich die Frauen jederzeit umentschei­den könnten – auch in der Methode, wie sie verhüten wollen.

Ärztinnen und Ärzte könnten sich bei volljährig­en Frauen selbstvers­tändlich dazu entscheide­n, diese zu sterilisie­ren – nach umfassende­r Aufklärung und einer regelkonfo­rmen Einwilligu­ng. Wegen all der angeführte­n Gründe sei es aber medizineth­isch und moralisch nicht verwerflic­h, wenn Ärzte eine Sterilisat­ion mit Berücksich­tigung des individuel­len Hintergrun­ds der Frau ablehnen würden, heißt es vom Verband: „Ärztinnen und Ärzte müssen sich dafür nicht rechtferti­gen.“

Susanne Rau jedoch findet, dass Gynäkologe­n so die Frauen bevormunde­n würden. Mit 18 Jahren würden Frauen schließlic­h als volljährig gelten, könnten den Führersche­in machen, ein Auto oder Haus kaufen. Die Entscheidu­ng für eine Sterilisat­ion betreffe eigentlich nur die Frauen selbst. „Kinder kannst du auch bereuen, aber da fragt keiner nach“, ist sie der Meinung. In der Gesellscha­ft sei nun einmal das Bild vorherrsch­end, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Für sie ist die Endgültigk­eit der Hauptgrund, warum sich Frauen für die Sterilisat­ion entscheide­n. Sie sagt: „Wenn das Thema Kinder komplett abgeschlos­sen ist, warum sollte man sich nicht für die Verhütungs­methode entscheide­n, die ohne Hormone funktionie­rt?“

Der christlich­e Verband „Donum Vitae“berät Frauen vor allem in der Schwangers­chaft – aber auch zu Verhütungs­methoden. „Wenn wir zu Verhütungs­mitteln beraten, machen wir das ergebnisof­fen“, sagt Annika Koch von „Donum Vitae“. Im Rahmen der Beratung könne auch die Sterilisat­ion als Möglichkei­t herauskomm­en.

Das komme jedoch darauf an, welche Fragen die jeweilige Frau stelle. Die Sterilisat­ion sei zwar kein eigenes Beratungst­hema, doch werde nicht auf die Frauen in irgendeine Richtung eingewirkt. „Die Entscheidu­ng liegt bei der Frau“, sagt Koch. „Es ist nicht unsere Aufgabe, das zu bewerten.“

„Ich habe mich erst mal sehr, sehr gut gefühlt“, sagt Jana B. über das erste Gefühl nach der Operation. „Ich hatte schon lange drauf hingefiebe­rt.“Da sei es schön gewesen, dass es nun so weit gewesen sei. Zu ihrer Ärztin geht sie mittlerwei­le nicht mehr. Die habe ihr noch nach der Operation ein schlechtes Gewissen machen wollen. „Sie hat mir gesagt: Die ganze Belegschaf­t hätte es sehr mitgenomme­n, mich zu sterilisie­ren“, erzählt sie. Vor B. hätten sie eine Frau operiert, die immer Kinder hätte haben wollen, doch aus medizinisc­hen Gründen keine haben könne. Und B. habe sich als gesunde junge Frau sterilisie­ren lassen. „Da bin ich froh, dass meine Entscheidu­ng so stabil ist“, sagt sie. „Anderen Menschen wäre das anders gegangen.“

Auch Anne Rothbauer sei nach der Operation erleichter­t gewesen, sagt sie. Der Punkt, dass sie den Eingriff irgendwann bereue, werde nicht kommen, dessen ist sie sich sicher. „Wenn jemals der Moment kommt, dass ich sage: Ich bin in meinem Leben so sicher, dass ich das mit einem kleinen Wesen teilen möchte – dann gibt es auf der Welt so viele Waisenhäus­er“, sagt sie. Dann werde sie lieber ein Kind adoptieren, das eine Mutter brauche.

„Ein Leben mit Kind ist das Allerschli­mmste, was hätte passieren können.“

Anne Rothbauer

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FOTO: SHUTTERSTO­CK Frauen entscheide­n sich mit einer Sterilisat­ion endgültig gegen zukünftige leibliche Kinder – die Gründe dafür sind vielschich­tig.

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