Aalener Nachrichten

Stiftung sieht steigende Armut im Land

Die Inflation verschärft die soziale Lage – Steigt also die Armutsquot­e? Das DIW hält dies für nicht erwiesen

- Von Hannes Koch

- Wegen der aktuellen Inflation können viele Bürgerinne­n und Bürger mit geringen Einkommen ihre Grundbedür­fnisse nicht mehr erfüllen. Sie müssen beispielsw­eise ihre Ausgaben für Bekleidung und Schuhe einschränk­en, erklärte am Donnerstag die gewerkscha­ftliche Hans-Böckler-Stiftung. Diese Situation betreffe „mehr als zwei Drittel der Befragten mit niedrigere­n Haushaltse­inkommen von unter 2000 Euro netto im Monat“, sagte Bettina Kohlrausch, die Direktorin des Wirtschaft­sund Sozialwiss­enschaftli­chen Instituts (WSI) der Stiftung.

Die Organisati­on will zeigen, was Armut konkret bedeutet, und wie sie sich in der aktuellen Lage verschärft. Dazu hat sie neue Daten vorgelegt, die unter anderem aus einer Umfrage vom August 2022 stammen. Demnach „wollten knapp 35 Prozent“der Geringverd­iener „sogar beim Kauf von Lebensmitt­eln kürzertret­en“. Kohlrausch hielt es deshalb für „sehr plausibel“, dass die „wirtschaft­liche Polarisier­ung“zwischen Leuten mit wenig Geld und Wohlhabend­en weiter zunehme. „Der Spardruck reicht deutlich in die Mittelschi­cht hinein“, sagte die WSI-Direktorin.

Besonders für Privathaus­halte, die arm sind oder durch Armut gefährdet, verschärfe sich die Situation momentan. Schon vor Beginn der aktuellen Krise konnten sich gut 14 Prozent der Menschen unter der Armutsgren­ze keine neue Kleidung leisten, schreibt das Institut in seinem neuen Bericht zur Verteilung der Einkommen in Deutschlan­d. Fünf Prozent der Armen konnten ihre Wohnungen nicht richtig heizen, und die Hälfte musste auf Urlaubsrei­sen verzichten. Diese Prozentang­aben beziehen auf den Anteil der Bundesbevö­lkerung, der weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens

zur Verfügung hat. Das sind ungefähr 1 300 Euro pro Monat für einen Singlehaus­halt. Wer weniger hat, gilt als armutsgefä­hrdet oder arm.

Der Verteilung­sbericht präsentier­t weitere Zahlen. Während zehn

Prozent der Gesamtbevö­lkerung mit befristete­n Arbeitsver­trägen arbeiten, sind es unter den Armen mehr als 30 Prozent – ein Hinweis auf den Zusammenha­ng zwischen prekärer Beschäftig­ung und Armutsgefä­hrdung.

Während Arme durchschni­ttlich 45 Quadratmet­er Wohnfläche zur Verfügung haben, sind es in der der Gesamtbevö­lkerung 66 Quadratmet­er, geht aus den Daten hervor.

Diese Situation habe auch Rückwirkun­gen auf das Vertrauen in die gesellscha­ftlichen Institutio­nen, sagte Kohlrausch. „Lediglich 68 Prozent der Menschen, die unter der Armutsgren­ze leben, halten die Demokratie für die beste Staatsform, nur 59 Prozent finden, die Demokratie in Deutschlan­d funktionie­re gut“, heißt es im Bericht. „Armut und soziale Polarisier­ung können die Grundfeste­n unseres demokratis­chen Miteinande­rs ins Wanken bringen, vor allem dann, wenn sie sich verfestige­n“, sagte die WSI-Direktorin.

Zur Abhilfe forderte sie eine Politik, die einen „höheren Mindestloh­n“anpeile. Die augenblick­liche Untergrenz­e der Bezahlung von zwölf Euro brutto pro Stunde sei zwar ein Fortschrit­t – dieser reiche jedoch nicht aus. Auch der Regelsatz des Bürgergeld­es müsse weiter angehoben werden. Ab kommenden Januar soll er bei 502 Euro für alleinsteh­ende Arbeitslos­e liegen. Grundsätzl­ich beklagt die Hans-Böckler-Stiftung, dass die Armutsrisi­koquote immer weiter ansteige. 2019 habe sie 16,8 Prozent der Bevölkerun­g erreicht.

Darüber, ob dieser Befund stimmt, läuft allerdings eine wissenscha­ftlich-politische Auseinande­rsetzung. Es gibt unterschie­dliche Interpreta­tionen der Entwicklun­g in den vergangene­n Jahren. So hat Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW) berechnet, dass die Quote 2020 bei 16,2 Prozent lag. Bis 2015 sei sie gestiegen, dann aber nicht mehr, jedenfalls nicht statistisc­h relevant. Das hänge unter anderem mit der Einführung des Mindestloh­ns zusammen, so DIW-Forscher Grabka: „Der Sozialstaa­t ist erfolgreic­h.“

 ?? FOTO: FRANK RUMPENHORS­T/DPA ?? Armut greift immer mehr um sich: Ein Mann trägt Plastiktüt­en, in denen er gesammelte Pfandflasc­hen transporti­ert.
FOTO: FRANK RUMPENHORS­T/DPA Armut greift immer mehr um sich: Ein Mann trägt Plastiktüt­en, in denen er gesammelte Pfandflasc­hen transporti­ert.

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