Aalener Nachrichten

Flick grübelt

Probleme der DFB-Defensive liegen tiefer als nur bei Sündenbock Süle – Bundestrai­ner erwägt radikale Maßnahme

- Von Patrick Strasser ●

- Es war einmal eine Turnierman­nschaft namens Deutschlan­d. Doch bei den letzten drei Endrunden, diese WM in Katar miteingere­chnet, gab es in acht Partien nur zwei Siege. Nimmt man das Halbfinal-Aus bei der EM 2016 (0:2 gegen Gastgeber Frankreich) dazu, waren es sogar neun Spiele, davon wurden sechs verloren – bei einer Torausbeut­e von 9:15. Eine dramatisch­e Bilanz, die Stimmung ist im Keller und die Wucht der Experten-Kritik aus der Heimat dürfte im DFB-Basecamp, dem luxuriösen „Zulal Wellness Resort“im Norden Katars, die Palmen umgeweht haben.

Doch welcher Gegenwind wiegt stärker? Der Sturm der Entrüstung der Experten oder die teamintern­e Kritik unmittelba­r nach dem 1:2 gegen Japan, die den Zündstoff für das nun lodernde Feuer lieferte. „Ich weiß nicht, ob jemals bei einer WM ein einfachere­s Tor erzielt wurde. Das darf nicht passieren. Wir sind hier bei der WM“, schimpfte Gündogan über den zweiten Gegentreff­er, an dem Niklas Süle als Rechtsvert­eidiger (hob das Abseits auf) und Innenverte­idiger Nico Schlotterb­eck (konnte Asano im Laufduell weder stoppen noch am Torschuss hindern) ihre Aktien hatten. Sie dürften sich angesproch­en fühlen. Auch wenn der Premier-League-Star von Manchester City keinen Namen nannte, verstieß er damit jedoch gegen den Team-Codex. Eine Herausford­erung für den Kit jeder Mannschaft. Gündogan schimpfte zudem über „einige leichte Ballverlus­te“, die Gegentore seien „hergeschen­kt“worden. Torwart Manuel Neuer sah von hinten „Pässe ohne Message“. ARD-Experte Bastian Schweinste­iger zählte Süle für dessen Fehlverhal­ten vor dem zweiten Gegentor an: „Der Fehler darf einem Außenverte­idiger nie passieren, das muss man sehen. Ganz, ganz schlecht.“

Am Sonntag im zweiten Gruppenspi­el gegen Spanien könnte Joshua Kimmich aus dem Mittelfeld wieder auf die Rechtsvert­eidiger-Position rücken – ausgeschlo­ssen hat Bundestrai­ner Hansi Flick diese erneute Rochade am Donnerstag nicht. „Sie können wirklich davon ausgehen, dass wir jede Personalie und jede Position diskutiere­n“, sagte Flick. Dann

würde Süle ins Abwehrzent­rum rücken. Für Schlotterb­eck bleibt wohl nur ein Platz auf der Ersatzbank. Sicher nicht die einzige Umstellung.

Schwerer jedoch wiegt die Unruhe nach all den internen Aussagen.

Nachdem bereits die Defensive und das Mittelfeld ihr Fett wegbekomme­n hatten, fehlte noch der Angriff aufgrund der haarsträub­enden Chancenver­wertung von Serge Gnabry und Co. – der blasse Kai Havertz

hatte gar keine Gelegenhei­ten. „Wir hätten sie killen müssen“, sagte Mittelfeld-Chef Kimmich und meinte damit: die da vorne. Bedeutet: Es ist ungemütlic­h geworden in der Wohlfühloa­se, die der DFB den Spielern in

Al Ruwais eingericht­et hatte. Dass dort – wie zuvor geplant – die Frauen und Freundinne­n der Akteure von Mittwoch auf Donnerstag übernachte­n durften, bewirkte, dass die Spieler nicht zu sehr aufeinande­r hockten nach dem Abendessen und Zeit war für Momente der Entspannun­g.

Denn wer auf seinem Handy surfte, wurde mit zahllosen ExpertenVo­rwürfen konfrontie­rt. Auch Flick, dem Vorgänger und Freund Jogi Löw den Rat gegeben hatte, in einem Turnier nicht zu viele Medien zu konsumiere­n, steht im Zentrum der Kritik. „Ich habe in dem Spiel einiges nicht verstanden“, sagte Lothar Matthäus in „Bild“und meinte trotz der Freundscha­ft zu Flick: „Gegen Japan hat er sich vercoacht.“Die Aufstellun­g der Außenverte­idiger, speziell Süle auf rechts, und die Wechsel seien „nicht glücklich“gewesen. Ohne Thomas Müller und Torschütze Gündogan sei „die Ordnung verloren gegangen“. Da stand es noch 1:0. Acht Minuten später kippte das Spiel. Er habe „frische Beine“bringen wollen, verteidigt­e Flick die Einwechslu­ng von Leon Goretzka und Jonas Hofmann. Für die 1990er-Weltmeiste­r Pierre Littbarski („Zu wenig Herzblut!“) und Andreas Möller („Zu soft!) lag es an fehlender Einstellun­g.

Nun ist guter Rat teuer. Und der Trainer als Psychologe gefragt, weil er in der Wüste für ein dickes Fell seiner „brutal enttäuscht­en Mannschaft“(Flick) sorgen und die internen Feuer austreten muss. Wie erzeugt man eine Jetzt-Erst-RechtStimm­ung? „Es geht darum, Mut und Charakter zu haben, sich zu zeigen. Wir müssen einiges verbessern, um gegen Spanien die Chancen offen zu halten“, sagte Flick am Donnerstag. Der 57-Jährige weiß um die Brisanz und Bedeutung des Spiels am Sonntag: „Wir haben keinen Schuss mehr frei, den Fehlschuss hatten wir schon.“

Durchhalte­parolen wie die von Flick („Ich glaube schon, dass wir Qualität haben und vertraue der Mannschaft. Wir haben eine gute Truppe“) dürfen sich nicht als leere Worte erweisen. Spanien ist im Grunde schon ein Finale, auch um die ganz große Blamage abzuwenden: Auf das historisch schwache Vorrunden-Aus bei der WM 2018 in Russland noch einen draufzuset­zen. Als Wiederholu­ngstäter.

 ?? FOTO: GLADYS CHAI VON DER LAAGE/IMAGO ?? Niklas Süle, Nico Schlotterb­eck, Antonio Rüdiger (v. li.) konnten es bislang nicht richten.
FOTO: GLADYS CHAI VON DER LAAGE/IMAGO Niklas Süle, Nico Schlotterb­eck, Antonio Rüdiger (v. li.) konnten es bislang nicht richten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany