Aalener Nachrichten

Premiere mit Fragezeich­en

Die Oper „Wozzeck“gerät am Theater Freiburg in die Hände einer planlosen Regie

- Von Georg Rudiger

- Melodische Linien überall. Die Streicher zaubern einen weichen, schimmernd­en Klang und veredeln die Übergänge. Auch im Blech und in den Holzbläser­n ist alles fein modelliert. Eine Belcanto-Oper hat sich der neue Freiburger Generalmus­ikdirektor für seine erste Premiere allerdings nicht gewünscht, sondern mit Alban Bergs 1925 uraufgefüh­rtem „Wozzeck“die erste abendfülle­nde atonale Oper der Musikgesch­ichte. Selbst die klangliche­n Zuspitzung­en des Philharmon­ischen Orchesters Freiburg bleiben rund und genau ausbalanci­ert zwischen den Registern – dieser „Wozzeck“wird zum echten Hörerlebni­s. Das Orchester ist auch optisch im Mittelpunk­t, sitzt es doch am Freiburger Theater auf einer großen Podesterie mitten auf der Drehbühne und wird immer wieder in Bewegung gesetzt. Wann und warum sich das Orchester in Marco Štormans Inszenieru­ng dreht, bleibt allerdings unklar, wie leider so manches an diesem Abend.

Zum einen verhindert die Positionie­rung des Orchesters einen Wechsel der Räume, der so wichtig ist für die in 15 Szenen und drei Akten klar

strukturie­rte Oper (Bühne: Demian Wohler). Der Wechsel also zwischen innen und außen, zwischen privat und öffentlich, zwischen Kaserne und Kneipe. Zum anderen wird die knapp bemessene Spielfläch­e vom Regisseur gar nicht genutzt. Die Figuren interagier­en bei diesem packenden Unterschic­htsdrama nicht, sondern werden ausgestell­t. Meist stehen sie hinter- oder nebeneinan­der und starren in den Zuschauerr­aum. Es gibt szenisch keine Hierarchie­n und keine Differenzi­erung. Irgendwie

haben alle einen an der Klatsche.

Und waren offensicht­lich beim gleichen Schneider. Man trägt bodenlange, glitzernde Abendkleid­er (Kostüme: Josa Marx), von Wozzeck bis zum Hauptmann (mit aufgeklebt­en Streifen), von Andres (Junbum Lee) bis zum Doktor (mit Scherenhän­den). Die erschütter­nde Milieustud­ie nach Georg Büchners Dramenfrag­ment wird in Freiburg zum Kuriosität­enkabinett. Aber die Regie greift noch weiter ein. Maries Kleinkind

ist ein Teenager (Jannis Zindel) mit Plateausch­uhen, der auch mal zu Maries Liebhaber wird und anstelle des Tambourmaj­ors (Joshua Kohl als Ninja Warrior mit Tenorschme­lz) seinen Vater zusammensc­hlägt. Wozzeck ist auch der Narr (warum?).

Der expressive, nach Mahler klingende Epilog nach Wozzecks Tod wird gleich zu Beginn gespielt. Wenn man eine klar definierte, musiktheat­ralisch genau gearbeitet­e Vorlage so massiv dekonstrui­ert, dann sollte man als Regisseur eine neue Geschichte erzählen können.

Es bleibt die Musik und damit auch die hohe sängerisch­e Qualität des Abends. Die dauerschni­tzende Titelfigur wird von Robin Adams mit immer sonorem Bariton und großartige­r Diktion gezeichnet. Caroline Melzer gefällt als Marie mit lyrischer Wärme, aber auch expressive­r, aber nie forcierter Höhe. Yunus Schahinger ist ein mimosenhaf­ter Doktor mit geschmeidi­ger Melodiefüh­rung, Roberto Gionfriddo ein durchgekna­llter Hauptmann mit Strahlkraf­t.

Am Ende gibt es völlig überrasche­nd doch noch einen berührende­n Moment, wenn Wozzeck Marie erstmals in die Augen schaut, sie küsst und gleichzeit­ig ersticht. Während seine Geliebte und Mutter des gemeinsame­n Sohnes stirbt, lehnt er sich an ihre Schulter. Zweimal führt André de Ridder das an diesem Abend groß aufspielen­de Philharmon­ische Orchester Freiburg auf einem Ton vom vierfachen Piano zum schneidend­en Forteforti­ssimo. Konzentrie­rter Schmerz!

Weitere Vorstellun­gen: 2./16./29. Dez. 2022, 18./28. Jan., 4./9. Febr. 2023, www.theater.freiburg.de

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FOTO: MARTIN SIGMUND Szene aus der Oper „Wozzeck“in Freiburg.

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