Aalener Nachrichten

Dramatisch­e Lage auf Intensivst­ationen der Kinderklin­iken

Oberarzt: „Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können“– Infektions­welle rollt

- Von Christina Sticht und Markus Klemm

(dpa) - Überbelegt­e Patientenz­immer, tagelanger Aufenthalt in der Notaufnahm­e, Verlegung von kranken Babys in mehr als 100 Kilometer entfernte Krankenhäu­ser: Die aktuelle Welle von Atemwegsin­fekten bringt Kinderklin­iken in Deutschlan­d an ihre Grenzen. Von einer „katastroph­alen Lage“auf den Kinder-Intensivst­ationen spricht die Deutsche Interdiszi­plinäre Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin (Divi).

Wenn ein gerade reanimiert­er Säugling in einer eigentlich voll belegten Kinderklin­ik aufgenomme­n werde, müsse dort ein Dreijährig­er den dritten Tag in Folge auf seine dringend notwendige Herzoperat­ion warten.

In den kommenden Wochen sei mit weiter steigenden Zahlen zu rechnen, hatte es im RKI-Wochenberi­cht vergangene­r Woche geheißen. „Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können“, sagte der Leitende Oberarzt der Kinderinte­nsivmedizi­n an der Medizinisc­hen Hochschule Hannover, Michael Sasse. Die Lage sei ohnehin schon prekär. Doch die enorme Welle von Infektione­n mit dem Respirator­ischen Synzytial-Virus (RSV) habe die Situation noch einmal verschlimm­ert. „Jetzt werden drei Jahrgänge von

Kindern diese Infekte durchmache­n, weil sie ohne Mundschutz durch die Gegend rennen“, sagte Sasse mit Blick auf die aufgehoben­en CoronaBesc­hränkungen. Das überforder­e die Kliniken in „totaler Weise“. Inzwischen würden Kinder auf Normalstat­ionen behandelt, die eigentlich auf Intensivst­ationen gehörten.

Die Intensiv- und Notfallmed­iziner untermauer­ten ihre dramatisch­en Befunde mit einer Umfrage unter den 130 Kinderklin­iken, die am bundesweit­en Kleeblattk­onzept zur Patientenv­erlegung teilnehmen. Dabei arbeiten jeweils bestimmte Bundesländ­er

zusammen. 110 hätten auf die Anfrage vom 24. November geantworte­t, sagte der Divi-Generalsek­retär und Münchner Kinder-Intensivme­diziner Florian Hoffmann. Theoretisc­h hätte es an diesem Tag in Deutschlan­d insgesamt 607 Kinderinte­nsivbetten gegeben. Tatsächlic­h seien es etwa vor allem wegen Personalma­ngels jedoch rund 40 Prozent weniger gewesen. „Aus den 607 Betten wurden 367.“

Und ein Großteil dieser Betten wiederum war belegt. Der Umfrage zufolge meldeten 47 Kliniken null verfügbare Betten, 44 Krankenhäu­ser

nur noch ein freies Bett. Und um diese wenigen Betten wiederum konkurrier­ten kleine Patienten aus der Notaufnahm­e im eigenen Haus oder von den Rettungsdi­ensten. Hinzu kämen Anfragen von Kliniken mit einer geringeren Versorgung­sstufe. „Da sehen wir, dass jede zweite Klinik in den letzten 24 Stunden ein Kind letztendli­ch ablehnen musste.“

Divi-Generalsek­retär Hoffmann sagte, die Lage auf den Intensivst­ationen liege nicht allein an der aktuellen RSV-Welle. Das Problem sei vielmehr über die vergangene­n Jahre immer größer geworden. Die Intensivme­diziner fordern unter anderem sofort bessere Arbeitsbed­ingungen in den Kinderklin­iken, den Aufbau telemedizi­nischer Netzwerke zwischen den pädiatrisc­hen Einrichtun­gen und den Aufbau von spezialisi­erten Kinderinte­nsiv-Transports­ystemen.

Die Kindermedi­ziner sehen jedoch nicht die Pandemie als primäre Ursache der teils dramatisch­en Situation in den Kliniken. „Dass Kinderlebe­n im Moment in Gefahr sind, das hat die Politik zu verantwort­en“, sagte Jakob Maske, Sprecher des Berufsverb­ands der Kinder- und Jugendärzt­e. Früher seien ganz andere Wirtschaft­lichkeitsk­riterien an die Pädiatrie, also Kinderheil­kunde, gestellt worden. „Jetzt muss Medizin profitabel sein, nicht Krankheite­n heilen, sondern Geld bringen.“

 ?? FOTO: MARIJAN MURAT/DPA ?? Eine Intensivpf­legerin hält auf der Kinder-Intensivst­ation in einer Klinik den Fuß eines jungen Patienten, der beatmet wird, in der Hand. Viele Kinderklin­iken klagen über eine starke Belastung aufgrund vermehrter Lungenerkr­ankungen bei Kindern.
FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Eine Intensivpf­legerin hält auf der Kinder-Intensivst­ation in einer Klinik den Fuß eines jungen Patienten, der beatmet wird, in der Hand. Viele Kinderklin­iken klagen über eine starke Belastung aufgrund vermehrter Lungenerkr­ankungen bei Kindern.

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