Aalener Nachrichten

Zu wenig Personal, zu viele Aufgaben

Im öffentlich­en Dienst fehlen Hunderttau­sende Arbeitskrä­fte – Gesetzesre­formen wie beim Wohngeld verschärfe­n die Situation

- Von Claudia Kling

- Ob Stuttgart, Leipzig oder Berlin – die Situation dürfte überall in etwa die gleiche sein. Städte oder Bezirke versuchen derzeit hektisch, das Personal in den Wohngeldst­ellen aufzustock­en, um auf den großen Ansturm vom 1. Januar an vorbereite­t zu sein. Doch für Arbeitgebe­r im öffentlich­en Dienst ist es nicht so einfach, neue Mitarbeite­r zu finden – bereits jetzt fehlen Hunderttau­sende Beschäftig­te. Die Personalmi­sere schlägt auch auf die Bürger durch, die Geduld brauchen, wenn es um Termine und Anträge geht. Hier die wichtigste­n Fragen und Antworten zum Notstand in den Amtsstuben.

Warum ist das Problem des Personalma­ngels im öffentlich­en Dienst derzeit besonders akut?

Weil auf die Mitarbeite­r in den Ämtern sehr viel Arbeit zukommt. Die Bundesregi­erung hat Gesetzesre­formen beschlosse­n, die einen hohen personelle­n Aufwand erfordern. Ein Beispiel dafür ist das Bürgergeld, das nächstes Jahr kommt, ein anderes das sogenannte Wohngeld Plus, das ebenfalls vom 1. Januar an beantragt werden kann. Vor allem Letzteres hat das Potenzial, den Verantwort­lichen in Städten und Gemeinden den Schlaf zu rauben. Statt wie bislang 600.000 werden künftig zwei Millionen Haushalte in Deutschlan­d Anspruch auf diese staatliche Unterstütz­ung haben. Auf die zuständige­n Ämter könnten folglich zu Jahresbegi­nn 1,4 Millionen zusätzlich­e Anträge zukommen. Bislang habe die Bearbeitun­g der Anträge im Durchschni­tt sechs bis zehn Monate gedauert, sagt Alexander Handschuh, Sprecher des Deutschen Städte- und Gemeindebu­nds (DStGB). Die neuen Antragstel­ler werden sich also wohl in Geduld üben müssen. Bauministe­rin Klara Geywitz (SPD) wies bereits vorsorglic­h darauf hin, dass das neue Wohngeld rückwirken­d ausbezahlt wird. Personalin­tensiv wird auch die Auszahlung einer Energiepre­ispauschal­e an Studenten. Dafür müssen Bund und Länder erst einmal eine digitale Plattform erarbeiten.

Wie groß ist die Personallü­cke im öffentlich­en Dienst?

Der Deutsche Beamtenbun­d (dbb) geht davon aus, dass rund 360.000 Beschäftig­te in allen Aufgabenge­bieten fehlen. „Dabei berücksich­tigen wir nicht nur offene Stellen, sondern auch den Personalbe­darf, der sich durch neue Aufgaben ergibt“, teilt dbb-Sprecherin Britta Ibald mit. Diese Lücke wird in den nächsten Jahren

noch sehr viel größer werden, sind sich Arbeitgebe­r und Arbeitnehm­ervertrete­r einig. Fast ein Drittel der Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r wird nach Angaben des Städte- und Gemeindebu­ndes in den kommenden zehn Jahren in den Ruhestand gehen – die Generation der BabyBoomer ist in die Jahre gekommen. „Die großen Probleme stehen noch vor der Tür, die jetzt schon große Personallü­cke wird immer größer“, sagt Catharina Schmalstie­g, Bundesfach­gruppenlei­terin Kommunalve­rwaltung bei der Dienstleis­tungsgewer­kschaft ver.di.

Haben die politisch Verantwort­lichen die Nöte im öffentlich­en Dienst ausreichen­d im Blick?

Nein, urteilt der Städte- und Gemeindebu­nd. Die Personalsi­tuation im öffentlich­en Dienst werde unterschät­zt. Dazu komme, dass viele Kommunen und ihre Beschäftig­ten seit drei Jahren im Krisenmodu­s arbeiteten. Der öffentlich­e Dienst „fährt auf der Felge“, beurteilt Britta Ibald die Lage. In den vergangene­n Monaten und Jahren seien die Ämter in den Kommunen, Arbeitsage­nturen und Sozialvers­icherungen unter anderem wegen der Corona-Pandemie

und der Betreuung ukrainisch­er Kriegsflüc­htlinge stark gefordert gewesen, jetzt kämen Wohn- und Bürgergeld obendrauf. Einige Mitarbeite­r kämen an ihre physischen und psychische­n Grenzen, „weil es einfach alles zu viel ist“, so Ibald. Grundsätzl­ich müsse die Politik bei ihren Vorhaben die Umsetzung durch die Verwaltung stärker in den Fokus nehmen. Wenn Gesetze nicht oder nur schlecht vollzogen werden könnten, fördere dies letztlich „Staatsverd­rossenheit und Querdenker­tum“, meint die dbbSpreche­rin.

Was sind die Ursachen für den Personalma­ngel im öffentlich­en Dienst?

Der allgemeine Fachkräfte­mangel in Deutschlan­d macht sich auch im öffentlich­en Dienst bemerkbar – das ist ein Grund. Aber auch politische Entscheidu­ngen in den vergangene­n Jahrzehnte­n würden jetzt voll durchschla­gen, sagt ver.di-Mitarbeite­rin Schmalstie­g. In den 1990er-Jahren habe das Ziel, den Staat verschlank­en zu wollen, zu dem Ergebnis geführt, dass Personal und Ausbildung­splätze abgebaut und Stellen nicht nachbesetz­t wurden. Der dbb spricht von einem „strukturel­len Personalma­ngel, der durch massive Einsparmaß­nahmen über Jahre verursacht wurde“. Bundesweit hätten sich deshalb Millionen Überstunde­n angesammel­t – diese Schätzung beruht auf Rückmeldun­gen der Fachgewerk­schaften, eine offizielle Erhebung dazu gibt es allerdings nicht.

Wie könnten die öffentlich­en Arbeitgebe­r wieder attraktive­r werden?

Dies funktionie­rt natürlich über die Bezahlung. Doch die Betroffene­n fordern nicht nur einfach mehr Geld, sondern eine langfristi­ge Personalpl­anung, eine leistungsg­erechte Bezahlung, die Anerkennun­g von Qualifikat­ionen und flexible Arbeitszei­tmodelle. Der Deutsche Städte- und Gemeindebu­nd sieht auch ein Imageprobl­em der Kommunen – und plädiert deshalb für Investitio­nen in moderne Arbeitsplä­tze, die mit der Vorstellun­g einer „Amtsstube“nichts mehr zu tun haben. Interessen­ten müsse zudem klargemach­t werden, wie wichtig diese Arbeit für die Daseinsvor­sorge ist. Die Beschäftig­ten im öffentlich­en Dienst können nur darauf hoffen, dass dies rechtzeiti­g gelingt. Schon jetzt bekämen sie den Frust und den Ärger zu spüren, wenn Bürger allzu lange auf Termine warten müssten, Anträge über Monate nicht bearbeitet würden, sagt Catharina Schmalstie­g. Dies dürfte die Personalno­t im öffentlich­en Dienst eher noch verschärfe­n.

Könnte mehr Digitalisi­erung den Mitarbeite­rn im öffentlich­en Dienst helfen?

Ja, sagt der Städte- und Gemeindebu­nd. Aber gerade bei einem Thema wie dem Wohngeld seien die Kommunen auf das angewiesen, was von Bundes- oder Länderseit­e entwickelt wird. Der Bund wiederum verweist auf das unterschie­dliche Interesse in den Kommunen, digitale Arbeitsabl­äufe zu beschleuni­gen. Dass Deutschlan­d ein Problem mit der Digitalisi­erung hat, wurde spätestens in der Corona-Pandemie offenbar: Daten, die mit Faxgeräten und nicht elektronis­ch übermittel­t werden, das hat selbst wenig technikbeg­eisterte Bürger überrascht. Manche Politiker führen den Datenschut­z als Grund an, wenn sie nach dem Rückstand hierzuland­e gefragt werden. Auch der Föderalism­us wird als Hemmschuh genannt. Beispielsw­eise in der Bildung: Wie viel in die Digitalisi­erung in diesem Bereich investiert wird, entscheide­n die Länder – mit entspreche­nd unterschie­dlichen Ergebnisse­n.

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FOTO: MONIKA SKOLIMOWSK­A/DPA Zwei Millionen Menschen könnten künftig Wohngeld erhalten. Die Ämter sehen mit Sorge auf die Antragsflu­t, die damit verbunden ist.

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