Zu wenig Personal, zu viele Aufgaben
Im öffentlichen Dienst fehlen Hunderttausende Arbeitskräfte – Gesetzesreformen wie beim Wohngeld verschärfen die Situation
- Ob Stuttgart, Leipzig oder Berlin – die Situation dürfte überall in etwa die gleiche sein. Städte oder Bezirke versuchen derzeit hektisch, das Personal in den Wohngeldstellen aufzustocken, um auf den großen Ansturm vom 1. Januar an vorbereitet zu sein. Doch für Arbeitgeber im öffentlichen Dienst ist es nicht so einfach, neue Mitarbeiter zu finden – bereits jetzt fehlen Hunderttausende Beschäftigte. Die Personalmisere schlägt auch auf die Bürger durch, die Geduld brauchen, wenn es um Termine und Anträge geht. Hier die wichtigsten Fragen und Antworten zum Notstand in den Amtsstuben.
Warum ist das Problem des Personalmangels im öffentlichen Dienst derzeit besonders akut?
Weil auf die Mitarbeiter in den Ämtern sehr viel Arbeit zukommt. Die Bundesregierung hat Gesetzesreformen beschlossen, die einen hohen personellen Aufwand erfordern. Ein Beispiel dafür ist das Bürgergeld, das nächstes Jahr kommt, ein anderes das sogenannte Wohngeld Plus, das ebenfalls vom 1. Januar an beantragt werden kann. Vor allem Letzteres hat das Potenzial, den Verantwortlichen in Städten und Gemeinden den Schlaf zu rauben. Statt wie bislang 600.000 werden künftig zwei Millionen Haushalte in Deutschland Anspruch auf diese staatliche Unterstützung haben. Auf die zuständigen Ämter könnten folglich zu Jahresbeginn 1,4 Millionen zusätzliche Anträge zukommen. Bislang habe die Bearbeitung der Anträge im Durchschnitt sechs bis zehn Monate gedauert, sagt Alexander Handschuh, Sprecher des Deutschen Städte- und Gemeindebunds (DStGB). Die neuen Antragsteller werden sich also wohl in Geduld üben müssen. Bauministerin Klara Geywitz (SPD) wies bereits vorsorglich darauf hin, dass das neue Wohngeld rückwirkend ausbezahlt wird. Personalintensiv wird auch die Auszahlung einer Energiepreispauschale an Studenten. Dafür müssen Bund und Länder erst einmal eine digitale Plattform erarbeiten.
Wie groß ist die Personallücke im öffentlichen Dienst?
Der Deutsche Beamtenbund (dbb) geht davon aus, dass rund 360.000 Beschäftigte in allen Aufgabengebieten fehlen. „Dabei berücksichtigen wir nicht nur offene Stellen, sondern auch den Personalbedarf, der sich durch neue Aufgaben ergibt“, teilt dbb-Sprecherin Britta Ibald mit. Diese Lücke wird in den nächsten Jahren
noch sehr viel größer werden, sind sich Arbeitgeber und Arbeitnehmervertreter einig. Fast ein Drittel der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird nach Angaben des Städte- und Gemeindebundes in den kommenden zehn Jahren in den Ruhestand gehen – die Generation der BabyBoomer ist in die Jahre gekommen. „Die großen Probleme stehen noch vor der Tür, die jetzt schon große Personallücke wird immer größer“, sagt Catharina Schmalstieg, Bundesfachgruppenleiterin Kommunalverwaltung bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di.
Haben die politisch Verantwortlichen die Nöte im öffentlichen Dienst ausreichend im Blick?
Nein, urteilt der Städte- und Gemeindebund. Die Personalsituation im öffentlichen Dienst werde unterschätzt. Dazu komme, dass viele Kommunen und ihre Beschäftigten seit drei Jahren im Krisenmodus arbeiteten. Der öffentliche Dienst „fährt auf der Felge“, beurteilt Britta Ibald die Lage. In den vergangenen Monaten und Jahren seien die Ämter in den Kommunen, Arbeitsagenturen und Sozialversicherungen unter anderem wegen der Corona-Pandemie
und der Betreuung ukrainischer Kriegsflüchtlinge stark gefordert gewesen, jetzt kämen Wohn- und Bürgergeld obendrauf. Einige Mitarbeiter kämen an ihre physischen und psychischen Grenzen, „weil es einfach alles zu viel ist“, so Ibald. Grundsätzlich müsse die Politik bei ihren Vorhaben die Umsetzung durch die Verwaltung stärker in den Fokus nehmen. Wenn Gesetze nicht oder nur schlecht vollzogen werden könnten, fördere dies letztlich „Staatsverdrossenheit und Querdenkertum“, meint die dbbSprecherin.
Was sind die Ursachen für den Personalmangel im öffentlichen Dienst?
Der allgemeine Fachkräftemangel in Deutschland macht sich auch im öffentlichen Dienst bemerkbar – das ist ein Grund. Aber auch politische Entscheidungen in den vergangenen Jahrzehnten würden jetzt voll durchschlagen, sagt ver.di-Mitarbeiterin Schmalstieg. In den 1990er-Jahren habe das Ziel, den Staat verschlanken zu wollen, zu dem Ergebnis geführt, dass Personal und Ausbildungsplätze abgebaut und Stellen nicht nachbesetzt wurden. Der dbb spricht von einem „strukturellen Personalmangel, der durch massive Einsparmaßnahmen über Jahre verursacht wurde“. Bundesweit hätten sich deshalb Millionen Überstunden angesammelt – diese Schätzung beruht auf Rückmeldungen der Fachgewerkschaften, eine offizielle Erhebung dazu gibt es allerdings nicht.
Wie könnten die öffentlichen Arbeitgeber wieder attraktiver werden?
Dies funktioniert natürlich über die Bezahlung. Doch die Betroffenen fordern nicht nur einfach mehr Geld, sondern eine langfristige Personalplanung, eine leistungsgerechte Bezahlung, die Anerkennung von Qualifikationen und flexible Arbeitszeitmodelle. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund sieht auch ein Imageproblem der Kommunen – und plädiert deshalb für Investitionen in moderne Arbeitsplätze, die mit der Vorstellung einer „Amtsstube“nichts mehr zu tun haben. Interessenten müsse zudem klargemacht werden, wie wichtig diese Arbeit für die Daseinsvorsorge ist. Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst können nur darauf hoffen, dass dies rechtzeitig gelingt. Schon jetzt bekämen sie den Frust und den Ärger zu spüren, wenn Bürger allzu lange auf Termine warten müssten, Anträge über Monate nicht bearbeitet würden, sagt Catharina Schmalstieg. Dies dürfte die Personalnot im öffentlichen Dienst eher noch verschärfen.
Könnte mehr Digitalisierung den Mitarbeitern im öffentlichen Dienst helfen?
Ja, sagt der Städte- und Gemeindebund. Aber gerade bei einem Thema wie dem Wohngeld seien die Kommunen auf das angewiesen, was von Bundes- oder Länderseite entwickelt wird. Der Bund wiederum verweist auf das unterschiedliche Interesse in den Kommunen, digitale Arbeitsabläufe zu beschleunigen. Dass Deutschland ein Problem mit der Digitalisierung hat, wurde spätestens in der Corona-Pandemie offenbar: Daten, die mit Faxgeräten und nicht elektronisch übermittelt werden, das hat selbst wenig technikbegeisterte Bürger überrascht. Manche Politiker führen den Datenschutz als Grund an, wenn sie nach dem Rückstand hierzulande gefragt werden. Auch der Föderalismus wird als Hemmschuh genannt. Beispielsweise in der Bildung: Wie viel in die Digitalisierung in diesem Bereich investiert wird, entscheiden die Länder – mit entsprechend unterschiedlichen Ergebnissen.