Wind lockt die Südwest-Wirtschaft nach Schottland
Schotten wollen im großen Stil Wasserstoff exportieren – Industrie braucht Energie und sieht auch Marktchancen
- Die Gruppe aus BadenWürttemberg ist vor allem wegen des schlechten Wetters nach Schottland gereist – ganz besonders wegen des Windes, der hier so heftig bläst wie in keinem anderen Land in Europa. Umso ärgerlicher ist für die Gastgeber das derzeitige Wetter in Glasgow: beinahe wohlige acht Grad warm, nahezu windstill und herrlicher Sonnenschein. „Das heute ist kein normaler Novembertag. Eigentlich haben wir hier viel mehr Wind, ganz sicher“, sagte Juliet Cramb-Low Anfang der Woche zur Begrüßung der 40-köpfigen Delegation aus dem Südwesten Deutschlands fast schon entschuldigend. Denn die Schottin ist Wasserstoff-Beauftragte der Regionalregierung in Edinburgh und will in dieser Funktion die Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft aus „The Länd“, wie es inzwischen ja heißt, vom Thema Wasserstoff begeistern.
Das mit knapp 5,5 Millionen Einwohnern eher kleine Land im Norden des Vereinigten Königreichs hat diesbezüglich jede Menge vor. Die schottische Industrie will mit kräftiger Unterstützung ihrer Regierung im großen Stil Wasserstoff erzeugen und in andere Länder – insbesondere nach Deutschland – exportieren. Gewonnen werden soll der wichtige Energieträger vor allem mithilfe von Strom aus Windkraftanlagen – an Land und auf hoher See – aber auch aus Wellen- und Gezeitenkraftwerken. „Schottland wird schon bald viel mehr Strom und auch Wasserstoff produzieren, als es selbst verbrauchen kann“, erläutert Cramb-Low. Und in Deutschland, insbesondere in Baden-Württemberg mit seinen vielen Industrieunternehmen, ist es umgekehrt. Hier dürfte schon bald deutlich mehr Wasserstoff benötigt werden, als selbst hergestellt werden kann. Dies hängt vor allem mit der Energiewende zusammen. Der sogenannte grüne Wasserstoff, der mithilfe von Ökostrom per Elektrolyse aus Wasser gewonnen wird, soll einen wichtigen Beitrag zur CO2-Reduktion in Deutschland und Europa leisten. Als Antrieb von Fahrzeugen und Motoren, in der Industrieproduktion und auch zum Heizen von Wohngebäuden.
Die schottische Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2030 fünf Gigawatt Wasserstoff zu produzieren, bis 2045 sogar 25. Für Deutschland gehen Experten bis 2030 von rund zehn Gigawatt aus. Der Bedarf hierzulande dürfte jedoch ungleich höher sein. „Die Partnerschaft mit Schottland ist eine Win-win-Situation: Baden-Württemberg kann Technologien für die Herstellung von grünem Wasserstoff zur Verfügung stellen, der anschließend zu uns geliefert wird“, fasst es die baden-württembergische Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) zusammen, die die Wirtschaftsdelegation auf dem Kurztrip in den Norden des Vereinigten Königreichs begleitet. Das Thema Wasserstoff erfahre vor dem Hintergrund der aktuellen Energiekrise eine ganz neue Dynamik. Die Produktion, der Transport
und der Einsatz von grünem Wasserstoff werden zunehmend zum Standortfaktor für die wirtschaftliche Entwicklung einzelner Regionen, so auch von Baden-Württemberg. Ivan McKee, der schottische Wirtschaftsminister, sieht sein Land derweil „fest entschlossen, eine Schlüsselrolle bei der Deckung des wachsenden Wasserstoffbedarfs von Importländern wie Deutschland zu spielen“.
Und deshalb haben Schottland und Baden-Württemberg nun in Glasgow eine offizielle Absichtserklärung
unterzeichnet. Ihr Inhalt: Unter anderem in den Bereichen erneuerbare Energien, Wasserstoff und Dekarbonisierung von Industrieprozessen sollen die Kooperationen beider Länder ausgebaut und weitere gemeinsame Aktivitäten vorangebracht werden. „Solch eine Vereinbarung ist ein starkes Zeichen. Nun gilt es, diese auch mit Leben zu füllen“, sagt Hoffmeister-Kraut.
Gerade dazu dienten solche Delegationsreisen, bei denen Kontakte initiiert oder auch vertieft werden können und ein gewinnbringender Austausch von Fachleuten aus beiden Ländern zu Technologietrends und Perspektiven in den Themenfeldern Wasserstoff und Brennstoffzellen möglich ist. Wie sich in Glasgow gezeigt hat, war dieser Austausch so gut, dass vermutlich schon das eine oder andere direkte Geschäft daraus entstehen könnte.
Dabei stellen die deutschen Protagonisten keinesfalls nur Kunden für Wasserstoff dar. Viele Unternehmen – gerade im Südwesten – konnten bereits zahlreiche Kompetenzen und Expertise im Bereich der Wasserstoffund Brennstoffzellentechnologie aufbauen. Sie bieten Hightech-Lösungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette an. Eine Studie der Unternehmensberatung Roland Berger sieht für die baden-württembergische Industrie bis zum Jahr 2030 ein zusätzliches Umsatzpotenzial von neun Milliarden Euro durch Wasserstoff – freilich
nicht nur mit Schottland, aber auch dort. Bis zu 16.500 neue Arbeitsplätze könnte das Thema Wasserstoff in Baden-Württemberg entstehen lassen, schätzt Hoffmeister-Kraut.
Noch steckt das Thema Wasserstoff in Deutschland praktisch in den Kinderschuhen, aber nicht nur die Ministerin und die schottische Wasserstoffindustrie sehen hier ein enormes Potenzial, auch deutsche Unternehmen wie Bosch, Daimler, die EnBW oder Rolls-Royce Power Systems in Friedrichshafen setzen mittlerweile stark auf das Thema grüner Wasserstoff. Doch wie soll der ganze Wasserstoff ins Land kommen? Aktuell wird in der Industrie sehr stark mit dezentralen Lösungen gearbeitet – zumindest bis auf Weiteres. Sprich: Die Unternehmen bauen eigene Elektrolyseure, mit denen sie ihren benötigten Wasserstoff selbst herstellen – so etwa Bosch. Bei Rolls-Royce am Bodensee entsteht ebenfalls eine solche Anlage.
„Eine Pipeline wäre aber die einfachste und auch günstigste Lösung“, sagt Markus Ohnmacht von Bosch. Diese müsse schnell kommen. Unter dem Namen European Hydrogen Backbone (EHB) wird genau daran gearbeitet – die künftigen Lieferländer in Europa per Pipeline mit den wichtigsten Industriezentren zu verbinden. Dies könne durch die teilweise Umwidmung von Gasleitungen gelingen. Zum Teil werde aber auch der Neubau von Leitungen erforderlich sein, erklärt WasserstoffExperte
Ohnmacht weiter. Wirtschaftsministerin Hoffmeister-Kraut glaubt ebenfalls an eine erfolgreiche Wasserstoff-Zukunft und spricht sich für einen künftigen Wasserstofftransport unter anderem über Pipelines aus. „Ganz entscheidend bei der Backbone-Lösung ist es, dass Baden-Württemberg dabei Berücksichtigung findet“, betont sie.
Die Schotten unterlassen derweil nichts, um die Besucher aus Deutschland von der Ernsthaftigkeit ihrer Pläne und Aktivitäten zum Thema Wasserstoff zu überzeugen. So präsentierten sie den Deutschen auf der Infotour zum Beispiel den mit 215 Turbinen auf 83 Quadratkilometern Fläche größten Windpark des Vereinigten Königreichs. Mit dessen Strom sollen schon bald bis zu acht Tonnen grüner Wasserstoff pro Tag – vor allem für den Export – hergestellt werden. Der mit 20 Megawatt größte Elektrolyseur auf der Insel ist dafür bereits in Planung.
Schon ganz konkrete Produkte und Lösungen für Wasserstoffanwendungen kann die Firma Hydrasun aus Glasgow anbieten. Mobile Speicherstationen, Wasserstoff-Tankstellen, Fahrzeuge und CO2-neutrale Beleuchtungssysteme sowie Instrumentierungsprodukte rund um Wasserstofflösungen werden auch vom deutschen Hydrasun-Standort in Bad Schönborn aus vertrieben, wie Cedric Krebs und Mohammed Adu Abed, die beiden Hydrasun-Statthalter in Deutschland, berichten. Der Standort in der kleinen Gemeinde bei Karlsruhe soll weiter wachsen – mittelfristig von zehn auf etwa 30 Mitarbeiter – und neben dem Vertrieb bald auch die Konstruktion und Fertigung von Wasserstoffprodukten für den deutschen Markt übernehmen.
Viele Unternehmen in Schottland übertragen ihre jahrzehntelange Expertise in der Öl- und Gasindustrie inzwischen erfolgreich auf das Thema Wasserstoff. Ein gutes Beispiel für einen Transformationsprozess in der Wirtschaft. Insgesamt existieren in dem „kleinen“Schottland bereits mehr als 60 konkrete Wasserstoffprojekte an 13 regionalen Wasserstoff-Hubs. „Es ist ausgesprochen spannend, zu sehen, wie ambitioniert und mit welch großen Projekten die Schotten das Thema angehen“, beschreibt Oliver Hoch, Wasserstoff-Experte bei Rolls-Royce Power Systems in Friedrichshafen, seine Eindrücke von der Delegationsreise. Nikolai Reith, wirtschaftspolitischer Sprecher der FDP-Landtagsfraktion und Abgeordneter des Wahlkreises Tuttlingen-Donaueschingen, beeindruckt vor allem der enorme politische Wille in Schottland, das Thema Wasserstoff zum Erfolg zu führen, und auch der große Enthusiasmus, den die Verantwortlichen im Norden der britischen Insel an den Tag legen.
Eine besonders originelle und typisch schottische Anwendung für Wasserstoff, die diesen Enthusiasmus unterstreicht, befindet sich einige Kilometer südlich von Aberdeen: Die Arbikie Highland Estate Distillery ist die erste Destillerie in ganz Schottland, die komplett CO2-neutral Whisky herstellt. Denn die edlen Spirituosen werden seit Kurzem ausschließlich mit Wasserstoff gebrannt – und nicht mit Erdgas, wie es sonst üblich ist. Der Wasserstoff entsteht zuvor in einem firmeneigenen Elektrolyseur, der mit Ökostrom betrieben wird. Hinter dieser Idee steckt neben anderen Paul Gill, Manager bei Logan Energy, dessen Unternehmen den Strom für die Destillerie liefert. Der Engländer, der etliche Jahre bei Luk im badischen Bühl gearbeitet hat, traf sich diese Woche ebenfalls mit der Delegation aus dem Ländle. Und dabei ließ er sich nicht die Chance entgehen, direkt nach Kontakten zu deutschen Brauereien zu fragen. Gills Vision: Hervorragend schmeckendes deutsches Bier, wie er es noch aus eigener Erfahrung kennt – aber komplett CO2-neutral gebraut mit Wasserstoff aus Schottland. Klingt nach einer guten Idee, zumindest sobald der heimische Wind wieder ordentlich bläst.