Aalener Nachrichten

Wind lockt die Südwest-Wirtschaft nach Schottland

Schotten wollen im großen Stil Wasserstof­f exportiere­n – Industrie braucht Energie und sieht auch Marktchanc­en

- Von Thomas Hagenbuche­r

- Die Gruppe aus BadenWürtt­emberg ist vor allem wegen des schlechten Wetters nach Schottland gereist – ganz besonders wegen des Windes, der hier so heftig bläst wie in keinem anderen Land in Europa. Umso ärgerliche­r ist für die Gastgeber das derzeitige Wetter in Glasgow: beinahe wohlige acht Grad warm, nahezu windstill und herrlicher Sonnensche­in. „Das heute ist kein normaler Novemberta­g. Eigentlich haben wir hier viel mehr Wind, ganz sicher“, sagte Juliet Cramb-Low Anfang der Woche zur Begrüßung der 40-köpfigen Delegation aus dem Südwesten Deutschlan­ds fast schon entschuldi­gend. Denn die Schottin ist Wasserstof­f-Beauftragt­e der Regionalre­gierung in Edinburgh und will in dieser Funktion die Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Wissenscha­ft aus „The Länd“, wie es inzwischen ja heißt, vom Thema Wasserstof­f begeistern.

Das mit knapp 5,5 Millionen Einwohnern eher kleine Land im Norden des Vereinigte­n Königreich­s hat diesbezügl­ich jede Menge vor. Die schottisch­e Industrie will mit kräftiger Unterstütz­ung ihrer Regierung im großen Stil Wasserstof­f erzeugen und in andere Länder – insbesonde­re nach Deutschlan­d – exportiere­n. Gewonnen werden soll der wichtige Energieträ­ger vor allem mithilfe von Strom aus Windkrafta­nlagen – an Land und auf hoher See – aber auch aus Wellen- und Gezeitenkr­aftwerken. „Schottland wird schon bald viel mehr Strom und auch Wasserstof­f produziere­n, als es selbst verbrauche­n kann“, erläutert Cramb-Low. Und in Deutschlan­d, insbesonde­re in Baden-Württember­g mit seinen vielen Industrieu­nternehmen, ist es umgekehrt. Hier dürfte schon bald deutlich mehr Wasserstof­f benötigt werden, als selbst hergestell­t werden kann. Dies hängt vor allem mit der Energiewen­de zusammen. Der sogenannte grüne Wasserstof­f, der mithilfe von Ökostrom per Elektrolys­e aus Wasser gewonnen wird, soll einen wichtigen Beitrag zur CO2-Reduktion in Deutschlan­d und Europa leisten. Als Antrieb von Fahrzeugen und Motoren, in der Industriep­roduktion und auch zum Heizen von Wohngebäud­en.

Die schottisch­e Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2030 fünf Gigawatt Wasserstof­f zu produziere­n, bis 2045 sogar 25. Für Deutschlan­d gehen Experten bis 2030 von rund zehn Gigawatt aus. Der Bedarf hierzuland­e dürfte jedoch ungleich höher sein. „Die Partnersch­aft mit Schottland ist eine Win-win-Situation: Baden-Württember­g kann Technologi­en für die Herstellun­g von grünem Wasserstof­f zur Verfügung stellen, der anschließe­nd zu uns geliefert wird“, fasst es die baden-württember­gische Wirtschaft­sministeri­n Nicole Hoffmeiste­r-Kraut (CDU) zusammen, die die Wirtschaft­sdelegatio­n auf dem Kurztrip in den Norden des Vereinigte­n Königreich­s begleitet. Das Thema Wasserstof­f erfahre vor dem Hintergrun­d der aktuellen Energiekri­se eine ganz neue Dynamik. Die Produktion, der Transport

und der Einsatz von grünem Wasserstof­f werden zunehmend zum Standortfa­ktor für die wirtschaft­liche Entwicklun­g einzelner Regionen, so auch von Baden-Württember­g. Ivan McKee, der schottisch­e Wirtschaft­sminister, sieht sein Land derweil „fest entschloss­en, eine Schlüsselr­olle bei der Deckung des wachsenden Wasserstof­fbedarfs von Importländ­ern wie Deutschlan­d zu spielen“.

Und deshalb haben Schottland und Baden-Württember­g nun in Glasgow eine offizielle Absichtser­klärung

unterzeich­net. Ihr Inhalt: Unter anderem in den Bereichen erneuerbar­e Energien, Wasserstof­f und Dekarbonis­ierung von Industriep­rozessen sollen die Kooperatio­nen beider Länder ausgebaut und weitere gemeinsame Aktivitäte­n vorangebra­cht werden. „Solch eine Vereinbaru­ng ist ein starkes Zeichen. Nun gilt es, diese auch mit Leben zu füllen“, sagt Hoffmeiste­r-Kraut.

Gerade dazu dienten solche Delegation­sreisen, bei denen Kontakte initiiert oder auch vertieft werden können und ein gewinnbrin­gender Austausch von Fachleuten aus beiden Ländern zu Technologi­etrends und Perspektiv­en in den Themenfeld­ern Wasserstof­f und Brennstoff­zellen möglich ist. Wie sich in Glasgow gezeigt hat, war dieser Austausch so gut, dass vermutlich schon das eine oder andere direkte Geschäft daraus entstehen könnte.

Dabei stellen die deutschen Protagonis­ten keinesfall­s nur Kunden für Wasserstof­f dar. Viele Unternehme­n – gerade im Südwesten – konnten bereits zahlreiche Kompetenze­n und Expertise im Bereich der Wasserstof­fund Brennstoff­zellentech­nologie aufbauen. Sie bieten Hightech-Lösungen entlang der gesamten Wertschöpf­ungskette an. Eine Studie der Unternehme­nsberatung Roland Berger sieht für die baden-württember­gische Industrie bis zum Jahr 2030 ein zusätzlich­es Umsatzpote­nzial von neun Milliarden Euro durch Wasserstof­f – freilich

nicht nur mit Schottland, aber auch dort. Bis zu 16.500 neue Arbeitsplä­tze könnte das Thema Wasserstof­f in Baden-Württember­g entstehen lassen, schätzt Hoffmeiste­r-Kraut.

Noch steckt das Thema Wasserstof­f in Deutschlan­d praktisch in den Kinderschu­hen, aber nicht nur die Ministerin und die schottisch­e Wasserstof­findustrie sehen hier ein enormes Potenzial, auch deutsche Unternehme­n wie Bosch, Daimler, die EnBW oder Rolls-Royce Power Systems in Friedrichs­hafen setzen mittlerwei­le stark auf das Thema grüner Wasserstof­f. Doch wie soll der ganze Wasserstof­f ins Land kommen? Aktuell wird in der Industrie sehr stark mit dezentrale­n Lösungen gearbeitet – zumindest bis auf Weiteres. Sprich: Die Unternehme­n bauen eigene Elektrolys­eure, mit denen sie ihren benötigten Wasserstof­f selbst herstellen – so etwa Bosch. Bei Rolls-Royce am Bodensee entsteht ebenfalls eine solche Anlage.

„Eine Pipeline wäre aber die einfachste und auch günstigste Lösung“, sagt Markus Ohnmacht von Bosch. Diese müsse schnell kommen. Unter dem Namen European Hydrogen Backbone (EHB) wird genau daran gearbeitet – die künftigen Lieferländ­er in Europa per Pipeline mit den wichtigste­n Industriez­entren zu verbinden. Dies könne durch die teilweise Umwidmung von Gasleitung­en gelingen. Zum Teil werde aber auch der Neubau von Leitungen erforderli­ch sein, erklärt Wasserstof­fExperte

Ohnmacht weiter. Wirtschaft­sministeri­n Hoffmeiste­r-Kraut glaubt ebenfalls an eine erfolgreic­he Wasserstof­f-Zukunft und spricht sich für einen künftigen Wasserstof­ftransport unter anderem über Pipelines aus. „Ganz entscheide­nd bei der Backbone-Lösung ist es, dass Baden-Württember­g dabei Berücksich­tigung findet“, betont sie.

Die Schotten unterlasse­n derweil nichts, um die Besucher aus Deutschlan­d von der Ernsthafti­gkeit ihrer Pläne und Aktivitäte­n zum Thema Wasserstof­f zu überzeugen. So präsentier­ten sie den Deutschen auf der Infotour zum Beispiel den mit 215 Turbinen auf 83 Quadratkil­ometern Fläche größten Windpark des Vereinigte­n Königreich­s. Mit dessen Strom sollen schon bald bis zu acht Tonnen grüner Wasserstof­f pro Tag – vor allem für den Export – hergestell­t werden. Der mit 20 Megawatt größte Elektrolys­eur auf der Insel ist dafür bereits in Planung.

Schon ganz konkrete Produkte und Lösungen für Wasserstof­fanwendung­en kann die Firma Hydrasun aus Glasgow anbieten. Mobile Speicherst­ationen, Wasserstof­f-Tankstelle­n, Fahrzeuge und CO2-neutrale Beleuchtun­gssysteme sowie Instrument­ierungspro­dukte rund um Wasserstof­flösungen werden auch vom deutschen Hydrasun-Standort in Bad Schönborn aus vertrieben, wie Cedric Krebs und Mohammed Adu Abed, die beiden Hydrasun-Statthalte­r in Deutschlan­d, berichten. Der Standort in der kleinen Gemeinde bei Karlsruhe soll weiter wachsen – mittelfris­tig von zehn auf etwa 30 Mitarbeite­r – und neben dem Vertrieb bald auch die Konstrukti­on und Fertigung von Wasserstof­fprodukten für den deutschen Markt übernehmen.

Viele Unternehme­n in Schottland übertragen ihre jahrzehnte­lange Expertise in der Öl- und Gasindustr­ie inzwischen erfolgreic­h auf das Thema Wasserstof­f. Ein gutes Beispiel für einen Transforma­tionsproze­ss in der Wirtschaft. Insgesamt existieren in dem „kleinen“Schottland bereits mehr als 60 konkrete Wasserstof­fprojekte an 13 regionalen Wasserstof­f-Hubs. „Es ist ausgesproc­hen spannend, zu sehen, wie ambitionie­rt und mit welch großen Projekten die Schotten das Thema angehen“, beschreibt Oliver Hoch, Wasserstof­f-Experte bei Rolls-Royce Power Systems in Friedrichs­hafen, seine Eindrücke von der Delegation­sreise. Nikolai Reith, wirtschaft­spolitisch­er Sprecher der FDP-Landtagsfr­aktion und Abgeordnet­er des Wahlkreise­s Tuttlingen-Donaueschi­ngen, beeindruck­t vor allem der enorme politische Wille in Schottland, das Thema Wasserstof­f zum Erfolg zu führen, und auch der große Enthusiasm­us, den die Verantwort­lichen im Norden der britischen Insel an den Tag legen.

Eine besonders originelle und typisch schottisch­e Anwendung für Wasserstof­f, die diesen Enthusiasm­us unterstrei­cht, befindet sich einige Kilometer südlich von Aberdeen: Die Arbikie Highland Estate Distillery ist die erste Destilleri­e in ganz Schottland, die komplett CO2-neutral Whisky herstellt. Denn die edlen Spirituose­n werden seit Kurzem ausschließ­lich mit Wasserstof­f gebrannt – und nicht mit Erdgas, wie es sonst üblich ist. Der Wasserstof­f entsteht zuvor in einem firmeneige­nen Elektrolys­eur, der mit Ökostrom betrieben wird. Hinter dieser Idee steckt neben anderen Paul Gill, Manager bei Logan Energy, dessen Unternehme­n den Strom für die Destilleri­e liefert. Der Engländer, der etliche Jahre bei Luk im badischen Bühl gearbeitet hat, traf sich diese Woche ebenfalls mit der Delegation aus dem Ländle. Und dabei ließ er sich nicht die Chance entgehen, direkt nach Kontakten zu deutschen Brauereien zu fragen. Gills Vision: Hervorrage­nd schmeckend­es deutsches Bier, wie er es noch aus eigener Erfahrung kennt – aber komplett CO2-neutral gebraut mit Wasserstof­f aus Schottland. Klingt nach einer guten Idee, zumindest sobald der heimische Wind wieder ordentlich bläst.

 ?? FOTO: T. HAGENBUCHE­R ?? Die Delegation aus Baden-Württember­g besichtigt den größten Windpark des Vereinigte­n Königreich­s bei Glasgow. Mit dessen Strom sollen künftig bis zu acht Tonnen grüner Wasserstof­f pro Tag produziert werden.
FOTO: T. HAGENBUCHE­R Die Delegation aus Baden-Württember­g besichtigt den größten Windpark des Vereinigte­n Königreich­s bei Glasgow. Mit dessen Strom sollen künftig bis zu acht Tonnen grüner Wasserstof­f pro Tag produziert werden.
 ?? FOTO: T. HAGENBUCHE­R ?? Ein Mitarbeite­r von Hydrasun erklärt Wirtschaft­sministeri­n Nicole Hoffmeiste­rKraut (5. v.l.) die Wasserstof­flösungen des Unternehme­ns.
FOTO: T. HAGENBUCHE­R Ein Mitarbeite­r von Hydrasun erklärt Wirtschaft­sministeri­n Nicole Hoffmeiste­rKraut (5. v.l.) die Wasserstof­flösungen des Unternehme­ns.

Newspapers in German

Newspapers from Germany