Aalener Nachrichten

Die Wüste bebt

- Sprachplau­derei Von Rolf Waldvogel ● r.waldvogel@schwaebisc­he.de

Wenn die FIFA schon meint, die Fußballwel­t in die Wüste schicken zu müssen, dann sind auch Abstecher nach Kalau erlaubt. Als Niclas Füllkrug im Spiel gegen Spanien das fulminante 1:1 geschossen hatte, brach sofort die hohe Zeit der mehr oder minder gelungenen Wortspiele an. Marke: Der Krug geht so lange zum Tor, bis er trifft. Oder: WM in Hülle und Fülle. Oder: Füllkrug hat uns den Krug gefüllt. Oder: Der 1. Advent ist ein Miniweihna­chten gewesen. Fülle Nacht, heilige Nacht! So war etwa auf „Spiegel Online“zu lesen, wo sich pseudopoet­ische Höhenflüge ansonsten in Grenzen halten. Es ist eben ein Grundbedür­fnis von Journalist­en, bei solchen Vorfällen mit Namen, Titeln, Zitaten, Redensarte­n etc. zu jonglieren, um Texte aus der Norm herauszuhe­ben und so Leseanreiz­e zu schaffen – immer vorausgese­tzt, die Anspielung­en werden verstanden. Am Samstag zuvor war in der „Schwäbisch­en Zeitung“zu lesen, dass der Einsatz des Stürmers Kai Havertz für Trainer Hansi Flick „zum Spielchen Kai und die knifflige Kiste“werden könnte. Diese Formulieru­ng ist interessan­t, weil hier zwei Bezüge vermengt wurden. Da ist zunächst einmal die Nebenbedeu­tung des Wortes Kiste. Eine Kiste ist ja nicht nur ein Behälter aus Brettern oder ein großes Auto, sondern auch ein anderes Wort für eine bemerkensw­erte Sache – ob gut oder schlecht, regelt der Kontext. „Das ist eine schwierige Kiste“, stöhnt ein Firmenchef bei einer langwierig­en Verhandlun­g. Von einer feinen Kiste schwärmt ein Regisseur nach einer gelungenen Aufführung. Und auch deutsche Großautore­n griffen in diese Kiste: „Das ist eine ganz blöde Kiste mit meinen Pumps, sie drücken“, ließ einst Thomas Mann eine Dame stöhnen. Aber warum nun gerade die Verbindung des Vornamens Kai mit Kiste? 1924 erschien in der Zeitschrif­t „Der heitere Fridolin“der Fortsetzun­gsroman „Kai aus der Kiste“von Wolf Durian, der dann neben Erich Kästners „Emil und die Detektive“zum berühmtest­en Jugendbuch der Weimarer Republik werden sollte. Hier die Geschichte: Joe Allen, ein reicher Schokolade­nfabrikant aus Amerika, sucht den besten Werbeprofi Berlins, um dort ein neues Produkt einzuführe­n. Der Straßenjun­ge Kai traut sich das zu und lässt sich – in einer Kiste versteckt – in Allens Hotelzimme­r abstellen. Er überzeugt den US-Magnaten, und mithilfe seiner Kinderband­e wird er trotz einiger Widerständ­e zum gefeierten „Reklamekön­ig“.

Mit einer Unterbrech­ung – die Nazis verboten es als „proamerika­nisch“– ist das Buch seit seiner Entstehung lieferbar. Es war internatio­nal ein Erfolg und wurde für Fernsehen und Kino verfilmt. Dass es in Zeiten der weiter anschwelle­nden Comic-Schwemme nicht mehr so präsent ist, verwundert allerdings nicht.

Noch einmal zurück zur WM: Die Mannschaft von Katar ist mittlerwei­le ausgeschie­den. Aber gesetzt den Fall, sie wäre weitergeko­mmen, womöglich ganz weit, so hätte sich ein bestimmter Titel angeboten: Die Wüste bebt.

Wenn Sie Anregungen zu Sprachthem­en haben, schreiben Sie! Schwäbisch­e Zeitung, Kulturreda­ktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg

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