Die Wüste bebt
Wenn die FIFA schon meint, die Fußballwelt in die Wüste schicken zu müssen, dann sind auch Abstecher nach Kalau erlaubt. Als Niclas Füllkrug im Spiel gegen Spanien das fulminante 1:1 geschossen hatte, brach sofort die hohe Zeit der mehr oder minder gelungenen Wortspiele an. Marke: Der Krug geht so lange zum Tor, bis er trifft. Oder: WM in Hülle und Fülle. Oder: Füllkrug hat uns den Krug gefüllt. Oder: Der 1. Advent ist ein Miniweihnachten gewesen. Fülle Nacht, heilige Nacht! So war etwa auf „Spiegel Online“zu lesen, wo sich pseudopoetische Höhenflüge ansonsten in Grenzen halten. Es ist eben ein Grundbedürfnis von Journalisten, bei solchen Vorfällen mit Namen, Titeln, Zitaten, Redensarten etc. zu jonglieren, um Texte aus der Norm herauszuheben und so Leseanreize zu schaffen – immer vorausgesetzt, die Anspielungen werden verstanden. Am Samstag zuvor war in der „Schwäbischen Zeitung“zu lesen, dass der Einsatz des Stürmers Kai Havertz für Trainer Hansi Flick „zum Spielchen Kai und die knifflige Kiste“werden könnte. Diese Formulierung ist interessant, weil hier zwei Bezüge vermengt wurden. Da ist zunächst einmal die Nebenbedeutung des Wortes Kiste. Eine Kiste ist ja nicht nur ein Behälter aus Brettern oder ein großes Auto, sondern auch ein anderes Wort für eine bemerkenswerte Sache – ob gut oder schlecht, regelt der Kontext. „Das ist eine schwierige Kiste“, stöhnt ein Firmenchef bei einer langwierigen Verhandlung. Von einer feinen Kiste schwärmt ein Regisseur nach einer gelungenen Aufführung. Und auch deutsche Großautoren griffen in diese Kiste: „Das ist eine ganz blöde Kiste mit meinen Pumps, sie drücken“, ließ einst Thomas Mann eine Dame stöhnen. Aber warum nun gerade die Verbindung des Vornamens Kai mit Kiste? 1924 erschien in der Zeitschrift „Der heitere Fridolin“der Fortsetzungsroman „Kai aus der Kiste“von Wolf Durian, der dann neben Erich Kästners „Emil und die Detektive“zum berühmtesten Jugendbuch der Weimarer Republik werden sollte. Hier die Geschichte: Joe Allen, ein reicher Schokoladenfabrikant aus Amerika, sucht den besten Werbeprofi Berlins, um dort ein neues Produkt einzuführen. Der Straßenjunge Kai traut sich das zu und lässt sich – in einer Kiste versteckt – in Allens Hotelzimmer abstellen. Er überzeugt den US-Magnaten, und mithilfe seiner Kinderbande wird er trotz einiger Widerstände zum gefeierten „Reklamekönig“.
Mit einer Unterbrechung – die Nazis verboten es als „proamerikanisch“– ist das Buch seit seiner Entstehung lieferbar. Es war international ein Erfolg und wurde für Fernsehen und Kino verfilmt. Dass es in Zeiten der weiter anschwellenden Comic-Schwemme nicht mehr so präsent ist, verwundert allerdings nicht.
Noch einmal zurück zur WM: Die Mannschaft von Katar ist mittlerweile ausgeschieden. Aber gesetzt den Fall, sie wäre weitergekommen, womöglich ganz weit, so hätte sich ein bestimmter Titel angeboten: Die Wüste bebt.
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