Aalener Nachrichten

Endspiel mit Zündstoff

Serbien gegen Schweiz ist vor allem für Xhaka mehr als ein Spiel ums Weiterkomm­en

- Von Marco Krummel

(SID) - Mitten in der Nacht reißt die jugoslawis­che Polizei Ragip Xhaka aus dem Schlaf, bringt ihn in Handschell­en in eine viermal zwei Meter große Zelle in Pristina. „Was mein Vater dort erlebt hat, wünscht man niemandem. Ich weiß bis heute nur die Hälfte dieser schlimmen Geschichte“, erzählt sein Sohn Granit. Sechs Monate sitzt Xhaka senior wegen „Auflehnung gegen den Staat“hinter Gittern – Folter ist an der Tagesordnu­ng.

Der Freilassun­g folgt die Flucht in die Schweiz, wo Granit Xhaka geboren wird und zum Aushängesc­hild der Nationalma­nnschaft reift. Jetzt trifft er im „Endspiel“ums WM-Weiterkomm­en in der Gruppe G (20 Uhr/MagentaTV und ZDF) ausgerechn­et auf das Land, in dem sein Vater die schlimmste Zeit seines Lebens ertragen musste – mal wieder. Bereits 2018 spielten die Eidgenosse­n in der Vorrunde gegen das heutige Serbien. Das Spiel eskalierte, Sport und Politik vermischte­n sich.

Denn bei Xhaka und dem ebenfalls albanisch-stämmigen Xherdan Shaqiri kochten nach dem Siegtreffe­r zum 2:1 die Emotionen über. Beide formten beim Jubel ihre Hände zu Flügeln, die Daumen in sich verbunden: ein Doppeladle­r. Das Wappentier

der Albaner als klare politische Botschaft und Provokatio­n in Richtung Serbien, das den albanisch bevölkerte­n Kosovo bis heute nicht anerkennt. Beide bekamen eine Geldstrafe. Und diesmal?

„Wir sind profession­ell genug, dass wir uns auf Fußball konzentrie­ren“, sagt Xhaka und schiebt mit einem Grinsen hinterher: „Hoffentlic­h.“Mit seinen Glückwünsc­hen an Albanien zum Nationalfe­iertag heizte er die Stimmung via Social Media am Montag an. Es hagelte ebenso unterstütz­ende Kommentare von Albanern wie Hassbotsch­aften von Serben. „Deshalb muss ich mein Handy nicht ausschalte­n. Das ist normal, das ist nichts Neues“, sagt der 30-Jährige demonstrat­iv cool.

Es gelte, „Schweizer Fußballges­chichte zu schreiben“, betonte Verbandsdi­rektor Pierluigi Tami. Das Ziel sei, die Nation „stolz und glücklich zu machen“, so Trainer Murat Yakin: „Alles andere überlassen wir anderen Personen.“Wenige Tage nach dem Doppeladle­r-Jubel war die Schweiz 2018 im Achtelfina­le gegen Schweden (0:1) nach einer blutleeren Vorstellun­g gescheiter­t. Man habe durch den Wirbel „sehr viel Kraft verloren“, gibt Xhaka zu.

Bei Serbien sei die Vorgeschic­hte „gar kein“Thema gewesen, erklärte Angreifer Aleksander Mitrovic: „Wir beschäftig­en uns nicht mit der Vergangenh­eit.“Dennoch gab es bereits erste Provokatio­nen. Aus der Kabine tauchten Fotos von einer nationalis­tischen Fahne auf. Dort waren die Umrisse des Kosovo in serbischen Nationalfa­rben abgebildet, die FIFADiszip­linarkommi­ssion leitete ein Verfahren gegen den serbischen Verband ein. Eigentlich bietet das Duell aber schon rein sportlich genug Brisanz – der Verlierer ist definitiv raus. Die Schweizer haben mit bislang drei Punkten alles in eigener Hand, Serbien muss selbst bei einem Sieg mit einem Auge aufs Parallelsp­iel der Kameruner gegen die bereits fürs Achtelfina­le qualifizie­rten Brasiliane­r blicken. Der Zündstoff der Partie ist also in vielerlei Hinsicht enorm.

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FOTO: AFP Granit Xhaka (Mi.) ist bereit.

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