Endspiel mit Zündstoff
Serbien gegen Schweiz ist vor allem für Xhaka mehr als ein Spiel ums Weiterkommen
(SID) - Mitten in der Nacht reißt die jugoslawische Polizei Ragip Xhaka aus dem Schlaf, bringt ihn in Handschellen in eine viermal zwei Meter große Zelle in Pristina. „Was mein Vater dort erlebt hat, wünscht man niemandem. Ich weiß bis heute nur die Hälfte dieser schlimmen Geschichte“, erzählt sein Sohn Granit. Sechs Monate sitzt Xhaka senior wegen „Auflehnung gegen den Staat“hinter Gittern – Folter ist an der Tagesordnung.
Der Freilassung folgt die Flucht in die Schweiz, wo Granit Xhaka geboren wird und zum Aushängeschild der Nationalmannschaft reift. Jetzt trifft er im „Endspiel“ums WM-Weiterkommen in der Gruppe G (20 Uhr/MagentaTV und ZDF) ausgerechnet auf das Land, in dem sein Vater die schlimmste Zeit seines Lebens ertragen musste – mal wieder. Bereits 2018 spielten die Eidgenossen in der Vorrunde gegen das heutige Serbien. Das Spiel eskalierte, Sport und Politik vermischten sich.
Denn bei Xhaka und dem ebenfalls albanisch-stämmigen Xherdan Shaqiri kochten nach dem Siegtreffer zum 2:1 die Emotionen über. Beide formten beim Jubel ihre Hände zu Flügeln, die Daumen in sich verbunden: ein Doppeladler. Das Wappentier
der Albaner als klare politische Botschaft und Provokation in Richtung Serbien, das den albanisch bevölkerten Kosovo bis heute nicht anerkennt. Beide bekamen eine Geldstrafe. Und diesmal?
„Wir sind professionell genug, dass wir uns auf Fußball konzentrieren“, sagt Xhaka und schiebt mit einem Grinsen hinterher: „Hoffentlich.“Mit seinen Glückwünschen an Albanien zum Nationalfeiertag heizte er die Stimmung via Social Media am Montag an. Es hagelte ebenso unterstützende Kommentare von Albanern wie Hassbotschaften von Serben. „Deshalb muss ich mein Handy nicht ausschalten. Das ist normal, das ist nichts Neues“, sagt der 30-Jährige demonstrativ cool.
Es gelte, „Schweizer Fußballgeschichte zu schreiben“, betonte Verbandsdirektor Pierluigi Tami. Das Ziel sei, die Nation „stolz und glücklich zu machen“, so Trainer Murat Yakin: „Alles andere überlassen wir anderen Personen.“Wenige Tage nach dem Doppeladler-Jubel war die Schweiz 2018 im Achtelfinale gegen Schweden (0:1) nach einer blutleeren Vorstellung gescheitert. Man habe durch den Wirbel „sehr viel Kraft verloren“, gibt Xhaka zu.
Bei Serbien sei die Vorgeschichte „gar kein“Thema gewesen, erklärte Angreifer Aleksander Mitrovic: „Wir beschäftigen uns nicht mit der Vergangenheit.“Dennoch gab es bereits erste Provokationen. Aus der Kabine tauchten Fotos von einer nationalistischen Fahne auf. Dort waren die Umrisse des Kosovo in serbischen Nationalfarben abgebildet, die FIFADisziplinarkommission leitete ein Verfahren gegen den serbischen Verband ein. Eigentlich bietet das Duell aber schon rein sportlich genug Brisanz – der Verlierer ist definitiv raus. Die Schweizer haben mit bislang drei Punkten alles in eigener Hand, Serbien muss selbst bei einem Sieg mit einem Auge aufs Parallelspiel der Kameruner gegen die bereits fürs Achtelfinale qualifizierten Brasilianer blicken. Der Zündstoff der Partie ist also in vielerlei Hinsicht enorm.