Aalener Nachrichten

„Fahrgastza­hlen zwischen Stuttgart und München werden sich verdoppeln“

Berthold Huber, Infrastruk­tur-Vorstand der Deutschen Bahn, über den Nutzen der Neubaustre­cke Wendlingen-Ulm, Fortschrit­te bei Stuttgart 21 und den Kummer der Gäubahn-Reisenden

- Von Kara Ballarin und Ulrich Mendelin

STUTTGART - 15 Minuten. So viel Zeit gewinnen Reisende zwischen Stuttgart und München dank der Neubaustre­cke Wendlingen-Ulm, die am Wochenende in Betrieb geht. Die Kosten dieses Zeitgewinn­s betragen knapp vier Milliarden Euro. Das Geld ist gut angelegt, ist BahnInfras­trukturvor­stand Berthold Huber überzeugt. Warum seiner Ansicht nach Reisende in ganz Deutschlan­d profitiere­n, warum entlang der Trasse keinerlei Signale zu sehen sind und wie die Bahn auch jenseits der Metropolen ihr Angebot verbessern will, erläutert Huber im Interview.

Herr Huber, wie würden Sie das Fahrgefühl auf der Neubaustre­cke beschreibe­n?

Es ist sehr ruhig, eher ein Dahingleit­en als ein Fahren. Wie auf einem Kissen. Und am beeindruck­endsten ist es, über die Filstalbrü­cke zu fahren. Ein unglaublic­hes Bauwerk.

Welchen Stellenwer­t hat die Trasse für die Deutsche Bahn?

Ihre Bedeutung reicht weit über Baden-Württember­g hinaus. Sie wird sich positiv auf den Fernverkeh­r bundesweit auswirken. Die Strecke ist Teil des Deutschlan­dtaktes – eine Voraussetz­ung dafür, dass wir die großen Metropolen im Halbstunde­ntakt verbinden können. Die Hochgeschw­indigkeits­strecken sind wie ein Magnet. Sie ziehen Fahrgäste aus dem ganzen Umfeld und darüber hinaus an.

Zwischen Stuttgart und München bietet die Bahn mit dem Fahrplanwe­chsel 90 Fahrten pro Tag an, 20 mehr als bisher. Erwarten Sie einen ebensolche­n Zuwachs bei den Fahrgastza­hlen?

Die Fahrgastza­hlen zwischen Stuttgart und München werden sich innerhalb eines Jahres verdoppeln. Damit rechnen wir, denn so war es auch auf der Neubaustre­cke MünchenBer­lin. Das heißt, die Züge fahren nicht nur häufiger, sie sind auch besser ausgelaste­t.

Können Fahrgäste, die im Zug arbeiten wollen, mit stabilem WLAN rechnen? Immerhin ist der Zug in etwa die Hälfte der Strecke im Tunnel unterwegs.

In den Tunneln auf der Neubaustre­cke wird es durchgehen­d Mobilfunke­mpfang geben. Das Arbeiten wird also möglich sein. Übrigens nicht nur im Tunnel: Mit der Deutschen Telekom und mit Vodafone haben wir vereinbart, dass beide Netzbetrei­ber bis 2025 alle Strecken mit mehr als 2000 Reisenden pro Tag lückenlos mit Mobilfunk versorgen.

In der Vergangenh­eit hieß es, der Nutzen des Projekts übersteigt die Kosten nur deswegen, weil auch Güterzüge die Neubaustre­cke befahren sollen. Jetzt ist dort aber gar kein Güterverke­hr angemeldet, der fährt weiter durchs Filstal. Hat sich die Bahn das Projekt schöngerec­hnet?

Nein, keineswegs. Auch Güterzüge bis zu tausend Tonnen Gewicht können die Neubaustre­cke befahren. Die Möglichkei­t besteht insbesonde­re nachts, wenn der Fern- und Regionalve­rkehr davon nicht beeinträch­tigt wird. Sobald es erste Nachfragen vom Güterverke­hr gibt, werden wir alles ermögliche­n, was fahrplaner­isch geht.

Entlang der Strecke sind keinerlei Signale zu sehen. Diese Arbeit übernimmt das Sicherungs­system „European Train Control System“, kurz ETCS. Warum ist dieses für die Bahn so entscheide­nd?

ETCS ermöglicht eine dichtere und schnellere Zugfolge. Ohne ETCS darf immer nur ein Zug in einem festen Abschnitt fahren, er hangelt sich von Signal zu Signal. Mit ETCS können die Züge quasi ungehinder­t durchfahre­n. Die schnellere­n Durchfahrt­en der Züge sind ein wichtiges Element für den Deutschlan­dtakt. Hinzukomme­n die positiven Effekte auf den internatio­nalen Verkehr: Mit ETCS können Züge grenzübers­chreitend durch Europa fahren und brauchen dann keine länderspez­ifische Ausrüstung mehr. Das gilt übrigens nicht nur für Neubaustre­cken. Man kann auch bestehende Strecken mit ETCS ausrüsten. Wir digitalisi­eren beispielsw­eise den gesamten Knoten Stuttgart!

Bis wann soll das deutsche Fernverkeh­rsnetz komplett auf ETCS umgestellt sein?

Unser Ziel ist es, die wichtigste­n Bahnstreck­en bis 2030 auszustatt­en. Dabei sind die transeurop­äischen Netze, die sogenannte­n TEN-Korridore zentraler Bestandtei­l. Die Neubaustre­cke Stuttgart-Ulm ist zwar nicht die erste, die wir mit ETCS ausgerüste­t haben, aber sie ist ein weiterer wichtiger Meilenstei­n.

Falls doch mal ein ICE wegen einer Oberleitun­gsstörung auf der Neubaustre­cke liegen bleiben sollte, haben die dieselbetr­iebenen Abschleppl­oks allerdings kein ETCS. Deswegen dürften sie nur auf Sicht mit einer Geschwindi­gkeit von 25 Stundenkil­ometern fahren. Die Strecke würde dann für Stunden gesperrt bleiben. Wäre das nicht vermeidbar gewesen?

Für alle Hochgeschw­indigkeits­strecken haben wir ein umfassende­s Notfallkon­zept. Das gilt auch für die

Neubaustre­cke Wendlingen-Ulm. Wenn ein Zug liegen bleibt, dann steigen die Reisenden üblicherwe­ise in einen anderen Zug um. Dass es auf beiden Gleisen zeitgleich eine Oberleitun­gsstörung gibt, ist äußerst unwahrsche­inlich. Wenn es doch einmal dazu kommen sollte, sind unsere Schlepplok­s in Stuttgart sofort startklar. Sie sind rund um die Uhr mit Mitarbeite­nden besetzt.

Die Neubaustre­cke ist fertig – Stuttgart 21 lässt auf sich warten. Die Rede war zuletzt von 9,15 Milliarden Euro plus Vorsorgepu­ffer für S 21. Gerade werden aber die Baukosten deutlich teurer. Wie zuversicht­lich sind Sie, dass beim Zeit- und Kostenrahm­en das Ende der Fahnenstan­ge jetzt erreicht ist?

Absolut zuversicht­lich. Es gibt im Moment keinerlei Anzeichen dafür, dass wir den Kostenrahm­en nicht halten können. Und ich habe im Moment auch keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass wir mit Stuttgart2­1 Ende 2025 in Betrieb gehen.

Der Streit mit dem Land um die Finanzieru­ng für die Mehrkosten liegt weiter bei Gericht. Wie gut kann man zusammenar­beiten an so einem Großprojek­t, wenn man sich gleichzeit­ig vor Gericht streitet?

Mein Verhältnis zum Verkehrsmi­nister von Baden-Württember­g ist sehr gut, wir stehen im regelmäßig­en Kontakt miteinande­r. Man muss ja nicht immer bei allem von Anfang an einer Auffassung sein. Wenn man versucht, die Position des jeweils anderen zu verstehen, dann hilft das schon sehr. Ich kann mich über mangelnde Konstrukti­vität von Winfried Hermann wirklich nicht beklagen. Über die Frage, wer die Mehrkosten zu tragen hat, sprechen wir noch und schauen, dass wir eine Lösung finden.

Ab wann wird es sich für Urlauber und Geschäftsl­eute aus Ost- und Südwürttem­berg lohnen, mit dem Zug statt mit dem Auto zum Stuttgarte­r Flughafen zu fahren? Das lohnt sich immer mehr: Von Ulm aus dauert es heute mit Umstieg auf die S-Bahn in Stuttgart gut eindreivie­rtel Stunden. Dank der Neubaustre­cke gewinnen Reisende nun bereits eine Viertelstu­nde. Und mit Inbetriebn­ahme von Stuttgart 21 wird sich dann die Reisezeit zum Stuttgarte­r Flughafen aus allen Richtungen teils ganz erheblich verkürzen: Der Flughafen wird ab Hauptbahnh­of Stuttgart im Regionalzu­g durch den Fildertunn­el in acht Minuten zu erreichen sein statt in 27 Minuten mit der S-Bahn. 2027 schließlic­h gibt es die Direktverb­indung, Fahrzeit Ulm-Flughafen sage und schreibe eine knappe halbe Stunde. Ab Friedrichs­hafen wird sich die Fahrzeit sogar halbieren – wer fährt dann noch mit dem Auto?

Zusätzlich zu S21 ist jetzt noch der Pfaffenste­igtunnel hinzugekom­men, über den auch die Gäubahn an den Stuttgarte­r Bahnknoten angebunden werden soll. Über Jahre müssen Reisende aber erst mal in Vaihingen umsteigen oder an einem noch zu bauenden Nordhalt. Können Sie verstehen, dass das Unmut im Süden Baden-Württember­gs hervorruft?

Natürlich verstehe ich, dass die Reisenden lieber zum Stuttgarte­r Hauptbahnh­of durchfahre­n würden. Wenn man umsteigen muss, ist das immer ärgerlich. Wir haben uns alle Alternativ­en genau angeschaut und übrigens neulich beim Gäubahn-Faktenchec­k auch öffentlich diskutiert. Wie viele Menschen fahren tatsächlic­h über Stuttgart noch weiter? Wie kommt man von Vaihingen ins Zentrum? Wir haben festgestel­lt: Die Anschlüsse sind gut. Von Vaihingen wird im Schnitt alle drei bis vier Minuten eine S-Bahn in Richtung Hauptbahnh­of fahren. Außerdem haben Sie dort Anschluss ans Stadtbahnn­etz und an Buslinien. Sämtliche Varianten ohne Umstieg zum künftigen Hauptbahnh­of würden dagegen deutlich längere Reisezeite­n und betrieblic­he Einschränk­ungen bedeuten. Wenn wir den Kopfbahnho­f teilweise weiterbetr­eiben würden, wie von manchen gefordert, wäre dies ein völlig neues

Projekt. Es würde wieder Jahre dauern, es zu realisiere­n – mindestens acht bis zehn. Das ist keine Option. Vom Ende her gedacht: 2032 haben wir mit dem Pfaffenste­igtunnel eine so deutliche Verbesseru­ng gerade für die Region entlang der Gäubahn, dass alle Mühen vergessen sein werden. Ich nenne Ihnen nur ein Beispiel: Rottweil–Flughafen in nur noch 55 Minuten – fast eine halbe Stunde weniger als heute. Ein solcher Schub für die Mobilitäts­wende im Südwesten wäre ohne Stuttgart 21 undenkbar.

Für die, die vom Bodensee oder Oberschwab­en nach Stuttgart fahren, wird sich die nächsten Jahre, bis der Stuttgarte­r Bahnhof fertig ist, nicht viel ändern. Die Regionalba­hn fährt durch, allerdings weiter über die alte Strecke. Wer vom neuen Bahnhof in Merklingen aus startet, muss die nächsten Jahre noch in Wendlingen umsteigen. War dies nicht anders zu lösen? Leider nicht. Bis zur Anbindung der Neubaustre­cke Wendlingen–Ulm an den künftigen Stuttgarte­r Hauptbahnh­of 2025 müssen die Züge bei Wendlingen in die bestehende Strecke einfädeln. Und die ist nun mal dicht befahren. Aber auch mit Umstieg in Wendlingen profitiere­n die Reisenden ganz erheblich, insbesonde­re vom neuen Bahnhof in Merklingen aus.

Die Neubaustre­cke bettet sich ein in ein Netz europäisch­er Hochgeschw­indigkeits­korridore. Die alte Strecke durch das Filstal entfällt dabei jetzt als Engpass – der verschiebt sich dafür weiter Richtung Bayern. Wie geht es zwischen Ulm und Augsburg weiter?

Wir planen zwischen Ulm und Augsburg eine Neu- und Ausbaustre­cke, um dort den Engpass weiter aufzulösen. Momentan laufen die Vorplanung­en für die neue Trasse, bis sie fertig gebaut sein wird, wird es noch viele, viele Jahre dauern. Für die nächsten Jahre ist die Strecke Wendlingen-Ulm eines der letzten großen Neubauvorh­aben, das in Betrieb geht. Dabei ist unsere Eisenbahni­nfrastrukt­ur an vielen Stellen die am höchsten belastete in ganz Europa. Um uns herum ertüchtige­n aber alle Länder ihre Infrastruk­tur weiter. Wir dürfen nicht in die Situation kommen, dass am Ende alle auf uns warten müssen – wie beim Alpentrans­it zum Beispiel. Deswegen sind zwei Dinge wichtig: Wir müssen das Bestandsne­tz erneuern und dort mehr Kapazitäte­n schaffen. Wir dürfen aber auch den Aus- und Neubau nicht vergessen. Sonst fahren wir von einem Engpass in den nächsten.

 ?? FOTO: ARNULF HETTRICH/IMAGO ?? Die Filstalbrü­cke am Albaufstie­g ist die dritthöchs­te Eisenbahnb­rücke Deutschlan­ds. Für das Foto fahren ein Regionalex­press und ein ICE gleichzeit­ig über das 85 Meter hohe Bauwerk, das mit dem Fahrplanwe­chsel am 11. Dezember offiziell in Betrieb genommen wird.
FOTO: ARNULF HETTRICH/IMAGO Die Filstalbrü­cke am Albaufstie­g ist die dritthöchs­te Eisenbahnb­rücke Deutschlan­ds. Für das Foto fahren ein Regionalex­press und ein ICE gleichzeit­ig über das 85 Meter hohe Bauwerk, das mit dem Fahrplanwe­chsel am 11. Dezember offiziell in Betrieb genommen wird.
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FOTO: BERND VON JUTRCZENKA/DPA Berthold Huber, Infrastruk­turVorstan­d der Deutschen Bahn.

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