Einsamer Traum im weißen Nichts
Kartitsch in Osttirol, erstes Winterwanderdorf Österreichs, wirbt mit Ruhe und jeder Menge Schnee
Ins Gailtal, im hintersten Winkel Osttirols, nahe an der Südtiroler Grenze, kamen die ersten Touristen erst spät. Das hat mit der Felbertauernstraße zu tun, die erst seit Ende der 1960er-Jahre einen einigermaßen komfortablen Anreiseweg von Norden nach Osttirol ermöglicht. Für Italiener ist der Weg kürzer, sie machen auch heute noch einen Großteil der Besucher aus. Deutsche nehmen den langen Anreiseweg aber gern in Kauf. Wer erst einmal angekommen ist auf fast 1400 Metern und die letzten Kurven von Lienz heraufgeschafft hat, kann das Auto viele Tage lang stehenlassen. Und im Winterwanderdorf Kartitsch einen Schneetraum genießen, der europaweit seinesgleichen sucht.
„Kommen Sie zu uns, wir haben nichts.“Mit diesem Spruch haben die Villgrater, heimisch in einem Nachbartal des Gailtals, vor Jahren geworben. Nichts – im positiven Sinn – haben auch die anderen Osttiroler Täler wie das Virgen- oder das Lesachtal und eben auch Orte wie Kartitsch und die Nachbargemeinden Ober- und Untertilliach. Nichts heißt: keine Bettenburgen, keinen Après-Ski und schon gar keine überfüllten Parkplätze. Dafür gibt’s Ruhe, Schneegarantie bis weit in den April hinein und viel unberührte Natur. Ein paar Lifte fahren auch, aber die Urlauber genießen vor allem ein großes Loipennetz und zig Kilometer zertifizierte Winterwanderwege.
Outdoorexperte und Wanderführer Jan Salcher ist sich sicher, „dass Wandern im Winter anders funktioniert als im Sommer und den Körper anders anspricht – da laufen Sie bewusster, machen kleinere Schritte und das ganze Weiß beruhigt die Sinne.“Es verlangsamt sozusagen. Wer dann noch Grödel anlegt, eine Art Spikes, die man über die Wanderschuhe zieht, um auf eisigen Stellen sicher voranzukommen, wird noch langsamer. „Und konzentrierter.“Der 51-Jährige bleibt an einem der riesigen Holzhaufen im Wald stehen. „Riechen Sie mal.“Er erzählt vom guten Holz, das hier oben langsamer wächst, schwärmt von den Flechten seiner Heimat und führt seine Gäste gern auf den höchstgelegenen Winterwanderweg bei St. Oswald. Dort, am Dorfgasthof, wo beim zwei Kilometer langen Schlepplift außer ein paar Talenten der kroatischen Jugendnationalmannschaft an diesem sonnigen Vormittag niemand trainiert geschweige denn Ski fährt, geht‘s erst einmal den Dorfberg hinauf, kräfteschonend und am leichtesten mit der Pistenraupe. Für zehn Euro pro Nase werden Wanderer
mitgenommen. Still wird’s erst, wenn die Skipiste verlassen ist, Bulliund Liftgeräusche verstummen und der Wald den Blick auf die Kartitscher Gipfel Roßkopf und Großer Kinigat freigibt. Die beiden Berge wurden vor Jahren einmal von der Bundesimmobiliengesellschaft zum Verkauf angeboten. „Interessenten gab’s genug“, erzählt Salcher, „aus dem Verkauf wurde dann aber nichts –
der Druck vom Alpenverein war einfach zu groß.“
Ruhe, grandiose Ausblicke und das Knarzen des Schnees: Was langweilig klingen mag, ist Labsal für Kopf und Körper. Obwohl auch in Kartitsch und den Nachbardörfern viele alte Häuser leer stehen, die jungen Menschen weggezogen sind, die Übernachtungszahlen abgenommen und etliche Gasthäuser geschlossen
haben, glaubt man weiter (oder wieder) an die Macht der Einsamkeit. „Auch politisch tut sich einiges“, sagt Salcher, und nennt das Dorf Obertilliach, wo alte Steinhäuser inzwischen wieder bewohnt werden – und zwar von Gästen, die ganz idyllisch winterurlauben wollen.
Auch Franz Strasser, 38-jähriger Juniorchef vom Hotel Waldruhe in Kartitsch setzt in seinem Haus ganz „auf Ruhe, Natur und Harmonie“. Es wird regional gekocht, die Schlipfkrapfen macht die 93-jährige Oma noch selbst, „und um zehn liegen unsere Gäste im Bett“. Vor knapp zehn Jahren hat er den elterlichen Betrieb übernommen. „Wir verzichten auf Siegel, Sterne und Auszeichnungen“, sagt der junge Vater, „alles andere macht keinen Sinn.“Die Buchungen scheinen dies zu bestätigen, und auch so etwas wie Personalnot ist nicht spürbar. Seine Angestellten, alles junge Einheimische, wohnen nicht weit weg. Was er anders macht als andere? „Ich zahle ein bisschen mehr und wir arbeiten ein bisschen weniger als andere“, so Strasser. „Außerdem servieren wir nur abends Essen und haben viel Spaß zusammen.“Das Gelächter aus der Küche scheint ihm recht zu geben.