„Mehr Wildnis durch Nutztiere“
Unberührte Natur gibt es kaum noch. Die Artenvielfalt erodiert. Der renommierte Naturfilmer Jan Haft schlägt eine ungewöhnliche Lösung vor. Kühe und Pferde sollen neue Lebensräume schaffen.
Jan Haft gilt als Deutschlands erfolgreichster Naturfilmer, seine Dokus („Mythos Wald“, „Die Wiese“) erhielten rund 270 Auszeichnungen. In einem neuen Buch widmet sich der 56-Jährige dem Thema Wildnis. Im Gespräch dazu erklärt er, warum der Wald vielen Arten keine Heimat bietet, welche Fehler in Nationalparks gemacht werden und warum er sich auf seinem Bauernhof im Isental, östlich von München, zwei Wasserbüffel hält.
Herr Haft, früher hatte Wildnis für den Menschen etwas Feindseliges. Heute dagegen sehnt er sich nach unberührter Natur, warum?
Weil wir etwas verloren haben. Wenn Wildnis potent und kräftig ist und das menschliche Dasein infrage stellt, ist sie für uns bedrohlich. Heute aber ist die Wildnis verschwunden, es bestehen nur noch klägliche Reste. Außerdem hat die Wissenschaft die Wildnis entzaubert, unbekannte, gefährliche Kreaturen gibt es nicht mehr. Die Wildnis ist also entzaubert und verschwunden. Deshalb interessieren wir uns jetzt wieder für sie und erkennen zunehmend ihren Wert für uns.
Wildnis ist dabei für uns gleich Wald, oder?
Genau, Wald und kein Mensch, so hört man es oft. Im 19. Jahrhundert, als die preußischen Forstgesetze und die Bodenreform Einzug hielten, versuchte man die Produktivität der Landschaft zu erhöhen. Mit der Maßgabe: Schickt bloß keine Schweine und Rinder mehr in den Wald, die machen das Holz kaputt. Verbietet man aber dem Menschen, mit seinem Vieh, in den Wald zu gehen, dann wächst alles zu. Der Wald wird dicht, dunkel und schattig. So entstand bei uns das Bild vom Wald als Urnatur. Ein falsches Bild.
Warum falsch? Im dichten Wald, in unberührter Natur, müsste doch die größte Artenvielfalt herrschen?
Nein, das ist ein Trugschluss. In Deutschland wachsen etwa 4000 höhere Pflanzenarten wie Bäume, Wiesenblumen oder Farne. Davon bewohnen aber nur die wenigsten, etwa 250, geschlossenen Wald. Für die Mehrheit der heimischen Pflanzen ist es dort zu dunkel und zu feucht. Ganz ähnlich sieht es bei den Wildtieren aus, bei Vögeln, Käfern, Spinnen, Schnecken oder Reptilien, die dort meist keine geeigneten Lebensbedingungen vorfinden. Die Mehrheit der Arten braucht Licht und Wärme – und deshalb mehr oder weniger offenes Land.
Und wo finden sie diese Bedingungen vor?
In einer Offenlandschaft. In Naturgebieten, wo es Flächen gibt, mit und ohne Bäume, die sich in einem chaotischen und ungeregelten System durchdringen, auch mit Gräsern, Büschen und Feuchtgebieten. In diesem Mix, in dieser halboffenen Landschaft, können sich Insekten, Säuger, Reptilien und all unsere 70.000 Arten an Pflanzen, Tieren und Pilzen entfalten. Wenn wir dagegen alles mit Wald zuwachsen lassen, sind es weniger als zehn Prozent der Organismen, die darin überleben können.
Warum gibt es diese Entfaltungsräume heute nicht mehr?
Weil uns heute die großen Tiere fehlen. Früher gab es hier bei uns Elefanten, Nashörner, zahlreiche Geweihträger, verschiedene Rinderarten, eine riesige Liste an großen Pflanzenfressern, die Lebensräume für andere Arten geschaffen haben. Durch uns Menschen verschwanden die meisten dieser großen Tiere. Heute kann die Wissenschaft belegen, was für eine große ökologische Lücke sie hinterlassen haben. Dieser negative Urknall ist schuld daran, dass Biodiversität und Biomasse immer stärker verschwinden. Und das wird so weitergehen, wenn wir es nicht korrigieren.
Aber Offenlandschaften gelten bei uns doch als künstlich und von Menschen gemacht?
Richtig. Dabei sind diese Landvon schaften von den ökologischen Prozessen her das Natürliche. Auch Waldungen hat es immer gegeben. Aber die großflächigen, dichten Wälder, die sind mit Sicherheit unnatürlich. Sie konnten erst durch das Wegfallen der großen Pflanzenfresser entstehen. Wenn wir dann noch mit der Jagd auf Reh und Hirsch eine lückenlose Naturverjüngung bewirken, oder durch die Pflanzung vieler Jungbäume einen dichten und holzreichen Wald schaffen, ist das unnatürlich. Das ist ein forstwirtschaftliches Ziel, kein ökologisches.
Insofern unterliegen auch unsere Nationalparks einem falschen Konzept?
Das ist zwar frech ausgedrückt, aber im Grunde ist es so. Die Leute fahren nach Afrika oder Nordamerika und machen dort Fotos
Giraffen, Elefanten und Bisons. Hier gehen sie in den Wald und machen Fotos von Pilzen. Man weiß ja vorher, dass man im deutschen Nationalpark praktisch keine Tiere sieht.
Gibt es dort denn gar keine großen Tiere mehr?
Doch, ein paar sind noch da. Aber: Im Winter füttert man die Hirsche, damit sie woanders keine Schäden anrichten. Und auch im Nationalpark wird Jagd auf die letzten Pflanzenfresserarten gemacht, so, wie bei der Gams. Dabei sollte man hier eher Großtiere wieder ansiedeln. Ganz vereinzelt gibt es zwar wieder den Wisent, der wird sich aber niemals weit verbreiten, er ist zu groß, zu gefährlich, dazu ist Deutschland zu dicht besiedelt.
Es bräuchte also eine Alternative, um die Landschaft auf natürliche Weise offen zu halten. Aber gibt es die überhaupt?
Ja, Kühe, Rinder, Pferde, Wasserbüffel.
Unberührte Natur über Nutztiere?
Richtig, das ist die These: Mehr Wildnis durch Nutztiere. Die großen Tiere, die einst gezähmt wurden, wie Wildpferd oder Rind, ließ der Mensch früher ja auch in großer Zahl draußen weiden. In der Kaiserzeit gab es bei uns über 30 Millionen Rinder und Pferde – doppelt so viele wie heute. Das Problem ist, dass die Tiere jetzt in der Massentierhaltung im Stall stehen statt im Wald. Und dadurch keinerlei positive Wirkung mehr auf die Natur haben und klimaschädlich sind. Das Rind auf der extensiven Weide ist dagegen gut für das Klima. Deshalb ist es auch falsch zu sagen, wir dürfen kein Fleisch mehr essen wegen dem Klimawandel. Es wäre richtig zu sagen, wir sollten wegen dem Klima kein Fleisch mehr aus der Massentierhaltung essen.
Könnten wir dann auch trotz Klimawandel Wildnis schaffen?
Sicher. Das ist eine neue Wildnis. Es widerstrebt zunächst unserem Gefühl, zu sagen, das soll Wildnis sein, wenn bunt gefleckte Kühe mit einer Ohrmarke rumstehen. Aber von der Funktion her haben große Gebiete mit Rindern, Pferden und Wasserbüffeln sehr viel mehr gemein mit einer Wildnis als Gebiete, die wir einfach zuwachsen lassen. Großtiere sind systemisch, schon weil sie Pflanzen in Dung umsetzen, die Landschaft mosaikartig offen halten, da entsteht ganz viel Lebensraum für Insekten, Pilze, Vögel. Die Nahrungskette vom Gras über die Kuh bis hin zum Rotmilan und anderen seltenen Tieren, die ist durchgängig. Wir haben sie nur unterbrochen, indem wir die Großtiere ausgeschaltet haben.
Und nun stellen wir Rinder und Pferde auf die Weide und lassen alles verwildern?
Nein, niemand will Deutschland verwildern lassen oder die Natur über den Menschen stellen. Es ist richtig so, dass wir den Großteil der Landschaft für unsere Zwecke umgestalten. Es stört mich aber, dass wir eine Erosion der Biodiversität haben, der Artenvielfalt und auch der Biomasse. Das geht so weit, dass Fledermäuse und Singvögel nicht satt werden und weniger Junge haben. Man könnte so leicht etwas dagegen tun.
Wie würde das aussehen?
Nehmen wir wenigstens fünf Prozent der Landesfläche, die Ungunstlagen, die Schwäbische Alb zum Beispiel, die Flussauen an Isar, Rhein oder Neckar. Da brauchen wir keinen Ackerbau. Und da muss niemand enteignet werden, das lässt sich über attraktive Subventionen milde regeln. Aber wir sollten diese Gebiete „re-wilden“, großzügig wie eine Almwiese, auf der Kühe grasen, umzäunen und Pferde, Wasserbüffel und Rinder reinstellen. Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass wir dadurch den Rückgang der Arten im Handumdrehen hinter uns lassen könnten.
Ist das nicht trotzdem schwer umzusetzen?
Nein, diese Vision muss nur in die Politik vordringen. Einziges Problem: Subventionen der Landwirtschaft werden über die EU in Brüssel entschieden, diesen Weg müsste man gehen. Wir brauchen den politischen Willen und die Durchsetzungsfähigkeit auf europäischer Ebene.
Wie kontrovers wird das unter Naturschützern diskutiert?
Der Ansatz ist nicht unbekannt. Viele, die sich mit Naturschutz beschäftigen, hängen aber an den Vorstellungen von gestern. Sie sagen, der Naturschutz müsse weiter mähen, abflämmen, entbuschen, Tümpel anlegen und freischneiden. Das ist der Knackpunkt: In Wirklichkeit brauchen wir nur Naturgebiete mit großen Tieren. Dann läuft alles von selbst ab. Das ist Wissenschaft, aber man setzt sie noch lange nicht überall um. Ich wage die Prognose: In 50 Jahren ist das jedem klar. Da werden alle Naturschutzgebiete mit großen Tieren beweidet, weil es keine Gegenargumente gibt.
Ist es richtig, dass sie selbst zwei Wasserbüffel halten?
Ja, hinter unserem Haus gibt es knapp drei Hektar sumpfiges Land, zu feucht für Pferde und Esel, es war zugewuchert mit Springkraut, Brennnesseln und Gehölzen. Die Wasserbüffel haben daraus ein Naturparadies gemacht, da ist mehr los als in manchem Schutzgebiet. Die fressen, knabbern, suhlen und scharren, halten Vegetation und Gewässer offen. Inzwischen gibt es dort viele seltene Singvögel, Frösche und Insekten. Es ist eine Wonne zu sehen, wie die Natur explodiert, ohne dass der Mensch eingreift.
Und wenn mir im Garten der Platz für Wasserbüffel fehlt?
Kein Problem. Vier Prozent der Landesfläche sind Naturschutzgebiete – und vier Prozent sind Gärten. Das bedeutet: Wir haben in all unseren Gärten das gleiche Potenzial wie in unseren Naturschutzräumen. Und da lässt sich viel machen. Hier mähen, dort hoch stehen lassen, da ein Tümpel, Komposthaufen, etwas Totholz, oder eine Rohbodenstelle für Wildbienen – je vielfältiger unsere Gärten sind, desto mehr wird darin leben. Wichtig ist nur, dass wir nicht den englischen Rasen bis in die letzte Ecke pflegen. Und dass wir auf Gift verzichten.