Wirtschaft sieht Standort Deutschland in Gefahr
Unternehmer und Gewerkschaften plädieren für einen günstigeren Industrie-Strompreis – Schließungen denkbar
- Die Gewerkschaften gehen mal wieder auf die Straße – diesmal aber nicht für höhere Löhne, sondern für einen niedrigen Strompreis in der Industrie. Denn durch die inzwischen massiv hohen Kosten für Strom und auch Gas seien in Deutschland Hunderttausende Jobs in Gefahr, befürchten die Industrie-Gewerkschaften IG Metall, IG Bergbau, Chemie, Energie und IG Bau. Insbesondere in energieintensiven Branchen wie der Stahl-, Chemieoder Baustoffindustrie drohten Arbeitsplatzverluste und sogar Standortschließungen.
Deshalb haben die Arbeitnehmervertreter am Donnerstag einen bundesweiten Aktionstag zu dem Thema veranstaltet und dabei einen Industrie-Strompreis gefordert, der „international wettbewerbsfähig ist und langfristige Planbarkeit gewährleistet“. Auch die Arbeitgeber plädieren für dauerhaft niedrige Energiekosten, um den Standort konkurrenzfähig zu halten.
Bereits seit Wochen sind immer wieder Stimmen zu hören, die hart mit Deutschland ins Gericht gehen – wegen der Dauerprobleme Bürokratie und Überregulierung aber gerade auch aufgrund der hohen Energiekosten. Jüngst schimpfte Beat Siegrist, Verwaltungsratspräsident des Schweizer Industriekonzerns Schweiter, der 700 seiner 4000 Mitarbeiter in Deutschland beschäftigt: „Das Problem, das wir haben, ist Deutschland.“Das Land habe den Industriestandort „in eine gefährliche Lage hineinmanövriert“. So habe Schweiter in seinem Werk in Mainz zeitweise kein Gas mehr erhalten. Dadurch sei das Unternehmen gezwungen gewesen, Arbeitsplätze von Deutschland nach Spanien sowie nach Tschechien zu verlagern. Auch Klaus Rosenfeld, Chef des fränkischen Autozulieferers Schaeffler, will künftig weniger im Inland und mehr in den USA sowie in China investieren.
Für die sehr industriell geprägte Wirtschaft in Baden-Württemberg haben sich die massiv gestiegenen Energiepreise ebenfalls zu einem Problem entwickelt. „Das Wirtschaftsministerium erreichen Sorgen von Unternehmen, die insbesondere von den gestiegenen Energiepreisen betroffen sind. Vor allem bei unseren Zulieferern sind Abwanderungstendenzen zu spüren“, teilt das Ministerium von Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) mit. „Damit unser Standort wettbewerbsfähig
bleibt, müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Das betrifft insbesondere die Energiepreise.“
Die Gas- und Strompreise waren durch den Ukraine-Krieg zwischenzeitlich auf historische Höchststände geklettert. „Trotz eines Rückgangs bewegen sie sich immer noch auf einem sehr hohen Niveau, das nach wie vor zu den höchsten in Europa gehört“, bemängelt Peer-Michael Dick, Hauptgeschäftsführer des Dachverbands Unternehmer BadenWürttemberg (UBW). „Dies stellt insbesondere energieintensive sowie mittelständische Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, vor enorme Herausforderungen. Viele haben bereits ihre Belastungsgrenze erreicht“, warnt Dick eindringlich.
„Ohne wettbewerbsfähige Energiepreise riskieren wir in letzter Konsequenz eine De-Industrialisierung in unserem Land. Ohne Industrie kein Wohlstand“, stößt Harald Marquardt, Vorstandsvorsitzender des gleichnamigen Autozulieferers aus Rietheim-Weilheim (Landkreis Tuttlingen), in dasselbe Horn. „Die drastisch gestiegenen Energiepreise belasten selbstverständlich auch unser Geschäft: So ist unser Strompreis um 60 Prozent gegenüber 2021 gestiegen; beim
Gaspreis beläuft sich die Teuerung sogar auf 189 Prozent“, berichtet er auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“.
„Wir begrüßen es zwar grundsätzlich, dass die Bundesregierung für gewisse Kostenerleichterungen gesorgt hat. Leider ist das ursprüngliche Konzept für die Gas- und Strompreisbremsen aber durch das europäische Beihilferecht so stark verwässert worden, dass es den meisten Industrie-Unternehmen nicht weiterhilft“, sagt der Unternehmer mit gut 10.000 Beschäftigten.
Hier ist er sich mit dem Unternehmerverband genauso einig wie mit den Gewerkschaften. Die maximale Fördergrenze für Unternehmen sei unter dem Druck von Brüssel viel zu niedrig angesetzt worden, bemängelt UBWHauptgeschäftsführer Dick unter anderem. Die Bundesregierung müsse hier dringend nachbessern und die beihilferechtlichen Anforderungen mit der EU-Kommission nachverhandeln, fordert er.
Gleichzeitig müsse die Regierung die Arbeiten an einem eigenen Industrie-Strompreis „unbedingt beschleunigen“. „Wie die Gewerkschaften sehen auch wir die Notwendigkeit einer sehr, sehr raschen Einführung eines international wettbewerbsfähigen
Industrie-Strompreises. Die Zeit drängt enorm“, sagt Dick.
Auch bei ZF in Friedrichshafen steht das Thema Energie auf der Agenda: „Langfristige Lieferverträge für Strom und Gas ermöglichen uns eine gewisse Planbarkeit der Energiekosten, doch ist auch ZF mit den gestiegenen Preisen konfrontiert“, sagt ein Konzernsprecher. Die Zukunft der deutschen Standorte hänge von deren internationaler Wettbewerbsfähigkeit ab. Dabei seien die Energiekosten einer von mehreren wichtigen Faktoren. „Bei dauerhaft hohen Energiepreisen müssen diese Kosten dann durch andere Einsparungen kompensiert werden. Wo das nicht möglich ist, müssen wir auch über Verlagerungen und Schließungen nachdenken“, betont der ZFSprecher unumwunden.
„Der Strompreis ist für die energieintensive Industrie nicht erst seit der Energiekrise ein Problem, die Lage hat sich zuletzt aber zugespitzt“, teilt die IG Metall Baden-Württemberg mit. Der Börsen-Strompreis habe 2020 im Durchschnitt noch bei 30 Euro pro Megawattstunde gelegen und 2022 dann im Schnitt 235 Euro erreicht. Heute liege er immer noch bei zirka 150 Euro. Entscheidend für die Gewerkschaft ist, dass der
Strompreis im europäischen und zumindest ansatzweise auch im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig sei. Setze man diesen Maßstab an, so erscheinen 40 bis 50 Euro realistisch.
In Anbetracht solcher Forderungen gibt sich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) noch ausgesprochen vage: Am Donnerstag bekräftigte er, er setze in erster Linie auf Mechanismen, die Strom für Unternehmen „mittelfristig“durch einen verstärkten Bezug aus erneuerbaren Quellen vergünstigten. Auf nationaler und europäischer Ebene werde zusätzlich „ein Interimsmodell mit direkten Subventionen diskutiert“. Die Entscheidung dazu fälle dabei jedoch „die gesamte Bundesregierung“.
Während die Debatte läuft, schaffen andere längst Fakten. Der Chemieriese BASF etwa investiert vor allem in China und anderen Ländern außerhalb Europas. Beim Stammwerk in Ludwigshafen (39.000 Mitarbeiter) stellt sich indes nur noch die Frage, wie schnell und wie umfangreich es schrumpfen wird. Und Speira, ein Aluminiumhersteller aus Nordrhein-Westfalen, wird Deutschland sogar komplett verlassen. Die Begründung: Das Geschäft rechnet sich einfach nicht mehr.