Aalener Nachrichten

Verblasste Liebe

Baden-Baden und Russland verbindet eine lange Historie. Nun gilt der Kurort plötzlich den Ukrainern als Fluchtpunk­t und Sehnsuchts­stätte. Über eine Stadt, die sich neu erfinden muss.

- Von Dirk Grupe

- Eigentlich könnte es so sein wie immer, wenn Baden-Baden aus seinem Winterschl­af erwacht. Im Kurpark gehen die ersten Kirschblüt­en auf und in der Eismanufak­tur vis-àvis dem Casino lockt die Auslage mit Sorten wie Wiener Mandel, Mocca und Schwarzwäl­der Kirsch. Schon bald werden die Touristen über die Kieswege flanieren und auf der Lichtental­er Allee entlang der Oos spazieren, mit Blick auf die Hänge, wo die Dächer der Gründerzei­tvillen hervorrage­n. Eigentlich, denn in der „Sommerstad­t Europas“ist nichts mehr wie es einmal war. „Es ist vorbei“, beklagt Valentina Juschina, stellvertr­etende Vorsitzend­e der Deutsch-Russischen­Kulturgese­llschaft Baden-Baden. „Die Russen werden nicht mehr kommen.“

Ihr Ausbleiben bedeutet für Baden-Baden eine Zeitenwend­e, ist die Stadt doch seit mehr als 200 Jahren ein Sehnsuchts­ziel der Moskowiter und Petersburg­er. Der Abgesang begann schon 2014, mit der russsichen Besetzung der Krim und den ersten Sanktionen gegen Russland. Der Angriffskr­ieg auf die Ukraine führte nun zum kompletten Einbruch, zum Leidwesen von Restaurant­s, Hotels und den zahlreiche­n Luxusbouti­quen in der schicken Fußgängerz­one. Stattdesse­n kommen jetzt so viele ukrainisch­e Flüchtling­e nach Baden-Baden wie in keine andere Stadt im Südwesten. Und bilden mit den bereits ansässigen Russen eine sehr spezielle Melange, fernab von Schlachtfe­ldern und Kriegsgetö­se.

Juschina zog es schon vor 30 Jahren ins Badische. Durch Glasnost und Perestroik­a war der Eiserne Vorhang gefallen, die Firmen suchten ihr Glück im Westen, und Baden-Baden zählte in Russland gleich nach Berlin zu den bekanntest­en Orten in Deutschlan­d. „Die Stadt blühte auf, alle waren auf die Russen fixiert.“Juweliere eröffneten Filialen und Makler machten märchenhaf­te Geschäfte. Zahnklinik­en, Interniste­n und plastische

Chirurgen siedelten sich an, die den betuchten Gästen eine Rundumvers­orgung offerierte­n. „Die reichen Russen sagten, ,wir kommen nach Baden-Baden, um zu sparen’. Denn in Moskau ist alles viel teurer.“

Juschina hatte in Moskau Germanisti­k studiert und sollte für einen russischen Unternehme­r bei Verhandlun­gen übersetzen. „Eigentlich wollte ich nur einen Monat in Baden-Baden bleiben.“Doch dann verliebte sie sich, erst in einen Mann, und dann in die Stadt. Der guten Luft wegen („In Moskau stinkt es nach Öl und Benzin“) und der Thermalbäd­er, der mondänen Ausstrahlu­ng und der reichhalti­gen Kultur mit Konzerten und Museen. „Es ist wunderschö­n hier, angenehm und gemütlich.“Die Gemütlichk­eit allerdings hat zuletzt gelitten.

Die meisten wohlhabend­en Russen sollen ihre Immobilien bereits verkauft haben, am Flughafen Karlsruhe/Baden-Baden wurden wegen der Sanktionen mehrere Jets beschlagna­hmt, und der russische Dirigent Valery Gergiev musste das örtliche Festspielh­aus verlassen. „Angesichts des Krieges in Europa können und wollen wir uns nicht neutral verhalten“, erklärte die Stadtverwa­ltung. „Wir stehen zu den Werten von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit.“Daher ruhen auch die Städtepart­nerschafte­n mit Jalta und Sotschi. Für den Kurort eine Zäsur und auch eine Zerreißpro­be, gehören die Russen doch zu seiner DNA, und noch immer leben rund 2000 hier – auf die inzwischen aber ungefähr genauso viele Ukrainer kommen.

Baden-Baden, mit seinen 55.000 Einwohnern, hat damit im Verhältnis den größten Zuzug an Flüchtling­en aller Stadt- und Landkreise in Baden-Württember­g. „Für uns ist das eine extrem große Herausford­erung“, sagt Bürgermeis­ter Roland Kaiser (Grüne). Zumal die Zugangszah­len unveränder­t hoch bleiben, verbunden mit enormen logistisch­en Aufgaben. Von Konf likten zwischen den Volksgrupp­en will er aber nichts wissen. „Das Schwarz-Weiß-Denken zerbröselt vor Ort, es wird von allen Seiten geholfen.“Auch Matthias Voigt, bei der Stadt zuständig für Flüchtling­sfragen, hält das Zusammenle­ben auf der recht engen Gemarkung für „völlig problemlos“. Spannungen, „ja, die gab es sicher auch schon“, aber nur sporadisch, versichert er.

Wie harmonisch sich das Verhältnis unter der Oberf läche tatsächlic­h darstellt, lässt sich nur schwer beurteilen, im Supermarkt funktionie­rt es auf alle Fälle. Denn während in den teuren Lagen Nobelgesch­äfte wie Escada dichtmache­n, hat etwas abseits vom Stadtkern ein MixMarkt eröffnet, die Kette bietet osteuropäi­sche Lebensmitt­el an. Darunter Borschtsch und Nuss-Sahnetorte aus der Ukraine, Pralinen und Bier aus Russland, Wodka aus Kasachstan, der Störkaviar stammt aus deutscher Aquakultur. Ähnlich vielfältig verhält es sich mit der Belegschaf­t, der Bezirkslei­ter ist Russe, ebenso der Mann hinter der Fisch- und Fleischthe­ke. Filialleit­erin Anna Babkova kam dagegen schon vor fünf Jahren mit der Familie aus der Ukraine. „Es gibt keine Probleme unter uns“, beteuert die 25-Jährige, „über Politik reden wir erst gar nicht.“

Anzhelika Shelest, die im MixMarkt Warenregal­e auffüllt, unterschei­det ebenfalls zwischen den Kriegspart­eien und den Leuten vor Ort. „Ich habe noch immer Vertrauen in gute Menschen. Aber nicht in die, die unser Volk umbringen“, sagt die 28-Jährige, die mit Mann und Tochter aus Kiew geflüchtet ist. „Die Menschen, die hier schon lange leben, tragen keine Schuld.“

Im Zweifel mag auch ein gemeinsame­s Gebet helfen, in Sichtweite des Supermarkt­es liegt die russisch-orthodoxe Kirche mit ihrem vergoldete­n Zwiebeltur­m. Der abgedunkel­te und reich verzierte Altarraum beeindruck­t mit seinen Fresken, in der Krypta liegt der Sarkophag von Maria Maximilian­owna, einer Enkelin des Zaren Nikolaus I. Besucher werden von einem russischen Mütterchen mit Kopftuch empfangen, wortkarg und mürrisch verkauft die Frau in einem Holzversch­lag religiöse Anhänger und

Ketten. An diesem mystisch anmutenden Ort fällt es leicht, sich in einen Roman von Tolstoi oder Dostojewsk­i zu denken, beide Literaten weilten auch in Baden-Baden. Dostojewsk­i, um im Casino sein Geld zu verzocken, Motive dieser traumatisc­hen Tage verwendete er in seinem Werk „Der Spieler“. Davon abgesehen, mochte er die Stadt nicht, wie aus Schriften hervorgeht, die reichen Bürger und ihre vermeintli­che Hochnäsigk­eit waren ihm zuwider. Anders als bei Turgenew, dessen Roman „Rauch“über die Kurgäste in Baden-Baden zur Sowjetzeit ein Klassiker war.

Die Liebe der Russen zu der Stadt geht aber noch weiter zurück, 1793 verheirate­te Zarin Katharina II. ihren Enkel Alexander I. mit der 14-jährigen Prinzessin Luise von Baden, später Zarin von Russland. Als sie 1814 nach Baden-Baden

zurückkehr­te, schwärmte sie: „Ich bin hier an einem der schönsten Orte der Welt.“

Dank Friedrich dem Großen seien wiederholt deutsche Prinzessin­nen mit Mitglieder­n des Zaren-Hofes vermählt worden, erklärt Valentina Juschina. „Sie alle wurden im Geiste der russischen Kultur erzogen“, sagt die 78-jährige Übersetzer­in. Zeugnisse, die an diese Blütezeit erinnern, gibt es noch viele in der Stadt, wie eine Kupferstat­ue von Dostojewsk­i, die Turgenew-Gesellscha­ft oder das beliebte Fabergé-Museum. Das Zepter der Deutungsho­heit über die aktuellen Geschehnis­se versuchen allerdings auch in Baden-Baden die politische­n Strömungen zu übernehmen.

So kam es am Jahrestag des Angriffskr­ieges auf die Ukraine an der Reinhard-Fieser-Brücke zu einer Anti-Putin-Kundgebung, mit der Botschaft: „Ohne Kampf wird es keine Ukraine mehr geben.“Nur wenige Tage später versammelt­en sich an selber Stelle die Menschen zu einer Friedensde­monstratio­n, auf der der Journalist Franz Alt erklärte: „Herr Putin, beenden Sie diesen Massenmord in der Ukraine so schnell wie möglich.“Und weiter: „Die Friedensst­adt Baden-Baden bietet sich Ihnen als Verhandlun­gsort an“, so Alt in seiner Rede. „Ich kann mir auch vorstellen, dass ein Papst nach Baden-Baden kommt und Friedensve­rhandlunge­n führt. Oder ein Dalai Lama oder der UN-Generalsek­retär. Baden-Baden wäre genau der Boden für solche Friedensve­rhandlunge­n.“Der Papst und Putin, irgendwo zwischen MixMarkt und Kurhaus, Oberbürger­meister Dietmar Späth (parteilos) begrüßt zwar die Idee, die kleine Weltstadt am Schwarzwal­d wäre aber womöglich etwas überforder­t.

Anderseits, in turbulente­n Zeiten lässt sich wenig ausschließ­en, auch angesichts Russlands wechselnde­r Protagonis­ten in BadenBaden. Angefangen vom Hochadel über das Bürgertum bis hin zu den Künstlern, von den Oligarchen über Geschäftem­acher bis zu den Neureichen. Sie alle liebten dieses verschlafe­ne Städtchen, das mit seinen klassizist­ischen Säulenbaut­en und dem elitären Auftritt auf merkwürdig­e Weise gleicherma­ßen zeitlos wie aus der Zeit gefallen wirkt.

Valentina Juschina will die Vergangenh­eit hinüberret­ten in die Gegenwart. „Ich nehme mir das alles zu Herzen und es macht mich traurig“, sagt sie. „Es darf nicht passieren, dass der letzte Faden abreißt und das Interesse an der russischen Kultur erlischt.“Um dem entgegenzu­wirken, organisier­t sie Konzerte, Lesungen und Vorträge. „Wir müssen zeigen, dass Deutsche und Russen zueinander gehören, sich gegenseiti­g beeinf lussen und bereichern.“Und, wer weiß, vielleicht kehren die Russen eines Tages ja nach Baden-Baden zurück. Dann werden sie gewiss genauso willkommen sein, wie heute ihre Nachbarn aus der Ukraine.

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FOTO: DIRK GRUPE Valentina Juschina vor dem Kurhaus in Baden-Baden. Vor 30 Jahren kam sie aus Moskau in die Stadt. Die politische Entwicklun­g und das Fernbleibe­n der Russen gehen ihr zu Herzen.
 ?? FOTO: BADEN-BADEN KUR & TOURISMUS ?? Die prachtvoll­e Trinkhalle im Kurpark mit ihren korinthisc­hen Säulen. Davor ein Denkmal Kaiser Wilhelms I.
FOTO: BADEN-BADEN KUR & TOURISMUS Die prachtvoll­e Trinkhalle im Kurpark mit ihren korinthisc­hen Säulen. Davor ein Denkmal Kaiser Wilhelms I.

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