Aalener Nachrichten

Verblassen­der Mythos

Bei den Schweizern bricht Stück für Stück ihr nationales Selbstvers­tändnis zusammen. Das Ende der Credit Suisse ist dabei nur der jüngste Fall des gefühlten Niedergang­s.

- Von Uwe Jauß ●

- Die Stimmung ist schicksals­ergeben: „Das war einmal. Es ist aber alles vorbei“, meint Erika Herzog. Sie hat sich kurz vor Mittag am Kiosk beim Bahnhof von St. Margrethen mit einigen anderen älteren Leuten getroffen. Etwas trinken, ein Schwatz, während die Frühlingss­onne den Schweizer Grenzort am östlichen Bodensee erwärmt. Das Thema: Was von einer einstigen eidgenössi­schen Herrlichke­it noch übrig ist, nachdem nun auch die Credit Suisse verschwind­et. „Nichts mehr. Wir sind inzwischen überall bloß noch Bittstelle­r“, glaubt Hans Peter Dosch, ein Ruheständl­er.

Eingef leischte Eidgenosse­n dürften in diesen Tagen einmal mehr bitterlich leiden. Die1856 als Schweizeri­sche Kreditanst­alt gegründete Credit Suisse war zumindest im historisch­en Gedenken ein nationaler Mythos. Zuverlässi­ge Großmacht des Geldes, gesegnet mit eidgenössi­scher Biederkeit und finanziell­er Schläue. Ohne ihre Kredite wäre der erste, vor rund 140 Jahren fertiggest­ellte Gotthardtu­nnel über ein paar Löcher im Berg nicht hinausgeko­mmen. Wobei durch die Bohrerei und das Sprengen unter Tage die nächste Legende entstand: Schweizer brechen die Herrschaft der Berge über alpine Verkehrsac­hsen.

Über Generation­en hat sich noch einiges mehr angesammel­t, das die Eidgenosse­n an einen besonders günstigen Stern glauben ließ – ganz nach dem Motto: kleines Land, aber oho. Auch die schwülstig­e Nationalhy­mne, auch als Schweizer Psalm bekannt, transporti­ert dieses Gefühl. So lautet der erste Vers: „Trittst im Morgenrot daher, Seh’ ich dich im Strahlenme­er, Dich, du Hocherhabe­ner, Herrlicher! Wenn der Alpenfirn sich rötet, Betet, freie Schweizer, betet! Eure fromme Seele ahnt, Eure fromme Seele ahnt, Gott im hehren Vaterland, Gott, den Herrn, im hehren Vaterland.“

Einer aus der St. Margrether Kioskrunde summt die Melodie kurz an – mit zynischem Unterton. Nach seinen Worten überlegt der Mann, ob er angesichts der gefühlten Misere seine Pension nicht in Thailand verjuxen soll. Was sonst von ihm zwischen ein paar Schlucken Büchsenbie­r als Gesprächsb­etrag kommt, bewegt sich im Bereich der Nostalgie. Womöglich klingt dies für die junge Generation fast wie ein Ausflug ins Sagenhafte.

Für was stand die Schweiz nicht alles? Für Seriosität, Pünktlichk­eit, Wohlstand, Stabilität sowie Wehrhaftig­keit. Ein Sehnsuchts­land für all jene, die diese Werte anheimelnd finden. Die kleine Heidi aus dem Roman von Johanna Spyri verkörpert­e Alpenidyll­e. Die Armbrust-schießende Nationalik­one Wilhelm Tell durfte für Tyrannentr­utz und eidgenössi­scher Selbstbeha­uptung stehen. Sein wichtigste­s Denkmal im zentralsch­weizerisch­en Altdorf zeigt ihn praktisch in der Gestalt eines ehernen Superhelde­n.

Dass Tell historisch ebenso schwer zu greifen ist wie der englische Robin Hood tat nie etwas zur Sache – zumal der schwäbisch­e Dichterfür­st Friedrich Schiller 1804 die Legende in wohlfeile Worte fasste. Siehe den legendären Satz: „Durch diese hohle Gasse muss er kommen. Es führt kein andrer Weg nach Küssnacht.“Dort soll Tell dann den verhassten Vogt Gessler mit einem Armbrustbo­lzen in eine andere Welt geschickt haben. Einfach eine zu schöne Vorstellun­g – zumindest für Liebhaber einfacher Weltsichte­n.

Doch die ganze eidgenössi­sche Herrlichke­it bekam bereits Ende der 1980er-Jahre erste schmerzhaf­te Risse. Schuld daran waren friedensbe­wegte Jungsozial­isten.

Schon aus ideologisc­hen Gründen wollten sie die damals noch existieren­de Sowjetunio­n nicht als Weltanscha­uungsgegne­r und böse Macht sehen, die den Schweizern ihre geliebten Franken wegnimmt. Ihnen gelang es schließlic­h, eine Volksiniti­ative zur Abschaffun­g der Armee zu starten.

Worauf der hochgerüst­ete Kleinstaat, die Alpenfestu­ng mit dem Gotthard als Rückzugsmö­glichkeit fürs letzte Gefecht, plötzlich Seltsames erlebte: öffentlich­e Massenanwa­ndlungen von Pazifismus. Ende November 1989 votierten 35,6 Prozent der Abstimmung­steilnehme­r für das Ende des Militärs. Ein Schock für alle jene, die nach gesetzlich­er Reglung stolz das Sturmgeweh­r samt Munition

im heimischen Kleidersch­rank hatten, um jederzeit einsatzfäh­ig zu sein.

„Ja, bei uns war das noch selbstvers­tändlich“, berichtet Rudolf Aebi von der Kioskrunde am Bahnhof von St. Margrethen. Der heutige Rentner durfte beim jährlich wiederkehr­enden Milizdiens­t eine der in die Berge gesprengte­n Artillerie­festen bewachen. Heutzutage muss das Schweizer Militär nach diversen Sparrunden und Reformen eingestehe­n, dass es nur bedingt verteidigu­ngsfähig ist. Eine Bestandsau­fnahme nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ergab: Noch nicht einmal die Luftabwehr würde funktionie­ren.

Neben der Militärmis­ere gab es ab den 1980er-Jahren noch eine weitere schleichen­de Entwicklun­g, die dem Mythos von Schutz und Trutz entgegenst­and: ein plötzlich geschärfte­r Blick auf die eidgenössi­sche Rolle im Zweiten Weltkrieg. Pathetisch war eigentlich immer gefeiert worden, wie Wilhelm Tells mobilgemac­hte Erben tapfer die Grenzen gegen Adolf Hitlers Drittes Reich schützten. Nun ja, auf einige Winke aus der Reichshaup­tstadt Berlin arbeitete die Schweizer Rüstungsin­dustrie f leißig für die Wehrmacht – die oft beschworen­e Neutralitä­t hin oder her. Als Fußnote sei dazu vermerkt, dass die Eidgenosse­n aktuell den schwer ringenden Ukrainern nichts Wehrhaftes liefern – aus Gründen der Neutralitä­t.

Aber noch einmal zurück zu den dunklen Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Berlin hatte den kleinen Nachbarn auch wissen lassen, dass er f lüchtende Juden an der Grenze besser nach Deutschlan­d zurückweis­en sollte. Was in der Regel brav geschah. Wer dennoch Juden durchließ, wie etwa der St. Galler Grenzbeamt­e Paul Grüninger, musste in seinem Schweizer Heimatland mit Bestrafung und Verfehmung rechnen. Grüninger wurde erst 1993 rehabiliti­ert – 21 Jahre nach seinem Tod.

Wobei ergänzt werden muss, dass solche Formen der Vergangenh­eitsbewält­igung eher bei elitären akademisch­en Kreisen in Zentren wie Zürich auf Interesse gestoßen sind. Am St. Margrehter Kiosk heißt es dazu kurzum und klassisch: Man solle doch die alten Geschichte­n ruhen lassen. Dafür ist ein spezielles singuläres Ereignis unvergesse­n und gerne angesproch­en. Weil konkret fassbar, gilt es als zentraler Start des Niedergang­s: das Grounding der stolzen Swissair. Es geschah am helllichte­n Nachmittag des 2. Oktobers 2001, einem Dienstag.

Der höchst renommiert­en Luftfahrtl­inie war das Geld ausgegange­n. Sie musste ihre Flugzeuge am Boden lassen. Eine erschütter­nde Nachricht, spielte Swissair doch in der Liga der ganz Großen. Mit dem Schweizer Kreuz an der Heckflosse galten ihre Maschinen als Inkarnatio­n eidgenössi­scher Solidität. „Dass die Swissair nicht mehr f liegt, konnte man damals kaum glauben“, erinnert sich ein weiterer Teilnehmer der St. Margrether Kioskrunde.

Ursache ihres Absturzes war der ambitionie­rte Versuch, eine Allianz mit teils maroden Luftfahrtl­inien anzuführen. Dabei verlupften sich die rührigen Schweizer. Dass dann die darniederl­iegende Swissair ausgerechn­et von der deutschen Lufthansa übernommen wurde, vertiefte das Trauma. Doch der nächste nationale Schock ließ nicht allzu lange auf sich warten. Er kam mit der internatio­nalen Finanzkris­e 2007/2008.

Sie beutelte den zweiten eidgenössi­schen Bankriesen, die UBS, ähnlich traditions­reich wie die Credit Suisse. Staat und Schweizeri­sche Nationalba­nk mussten das Edel-Institut vor der Pleite retten. Es gelang. Fortan machten die UBS-Manager vieles richtig, ihre Pendants bei der Credit Suisse hingegen nicht – mit der seit vergangene­m Wochenende bekannten Folge, dass die Kreditanst­alt nun zur UBS gehört. Ist damit also doch irgendwie in letzter Minute der Bankplatz Schweiz gerettet worden? Insider sagen abwartend: Das wird sich weisen. Am Kiosk von St. Margrethen verweist indes Erika Herzog Kaffee schlürfend darauf hin, dass auch das heimische Bankwesen nicht mehr das sei, was es war.

In der Tat: Bankgeheim­nis und Nummernkon­ten sind passé – wenigstens für Ausländer. Dabei halten viele Schweizer die finanziell­e Verschwieg­enheit für eine zentrale Errungensc­haft ihrer Nation – vielleicht auch, weil sie tatkräftig zur Wirtschaft­skraft beitrug. Selbst Comics behandelte­n das legendäre Bankgeheim­nis. So versteckte­n sich Asterix und Obelix bei ihren Schweizer Abenteuern in Schließfäc­hern des Bankiers Vreneli. Doch nach der Finanzkris­e gab es ein internatio­nales Einverstän­dnis von Berlin bis Washington, die Schweizer Institutio­n zu kippen. Diktatoren und andere Schurken sollten ihr gesammelte­s Vermögen nicht mehr in eidgenössi­sche Safes retten können, ebenso wenig Steuerhint­erzieher. Das Ende der helvetisch­en Steuer-oase wurde verlangt.

Der seinerzeit­ige deutsche Finanzmini­ster Peer Steinbrück (SPD) hatte 2009 auch gleich die Machtverhä­ltnisse deutlich gemacht. Er deutete an, dass man bei einer schweizeri­schen Widerborst­igkeit auch die Kavallerie schicken könnte. Ein äußerst schmerzlic­her Stich ins Herz der tapferen Eidgenosse­n, den sie nur mit dem Hinweis auf eine gerne beklagte deutsche Arroganz mildern konnten. Doch solche Wunden des Bedeutungs­schwunds brechen immer wieder auf. Neben dem großen Nachbarn im Norden spielt vor allem die EU den gerne hergenomme­nen Bösewicht. „Brüssel pfeift, und unsere Politiker stehen stramm“, wird dazu in der St. Margrethen­er Kioskrunde geschimpft.

Tatsächlic­h scheint eine EUMitglied­schaft in der Schweiz bis heute nicht mehrheitsf­ähig zu sein. Als offizielle­r Grund nennt die Regierung den Status der Neutralitä­t. Durch zig bilaterale Verträge haben sich die Eidgenosse­n aber mit der EU verknüpft. Mit der Folge, dass sie an europäisch­e Vorgaben gebunden sind, ohne in Brüssel mitreden zu können. Praktisch ein Schuss in den eigenen Fuß.

Was bleibt aber denn nun? Gute Frage. Zuletzt musste sogar der nationale Mythenberg Matterhorn von der Toblerone-Packung verschwind­en. Der Grund: Die ureigene nationale dreieckige Schoggi wird künftig in der Slowakei produziert. „Aber der Zug fährt wenigstens noch pünktlich“, meint Hans Peter Dosch von seinem Kioskstuhl mit Blick auf den nahen Bahnhof von St. Margrethen. Was laut Statistik stimmt. Ein anderer Gesprächsp­artner scherzt zynisch dazu: „Den Emmentaler haben wir auch noch. Und dessen Löcher sind nicht einmal größer geworden.“

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 ?? FOTOS: IMAGO ?? Als Berg ist das Matterhorn unverrückb­ar. Als zentrales Symbol der Schweiz gilt dies hingegen nicht. Zuletzt musste der Berg von der TobleroneS­chachtel verschwind­en, weil die Schokolade­nproduktio­n in die Slowakei ausgelager­t wurde. Was letztlich ein weiterer Schlag gegen die eidgenössi­sche Seele ist. Wobei sie jüngst vom Ende der Credit Suisse besonders hart getroffen wurde. Selbst der traditione­lle Bankenmyth­os des Landes wankt schwer.
FOTOS: IMAGO Als Berg ist das Matterhorn unverrückb­ar. Als zentrales Symbol der Schweiz gilt dies hingegen nicht. Zuletzt musste der Berg von der TobleroneS­chachtel verschwind­en, weil die Schokolade­nproduktio­n in die Slowakei ausgelager­t wurde. Was letztlich ein weiterer Schlag gegen die eidgenössi­sche Seele ist. Wobei sie jüngst vom Ende der Credit Suisse besonders hart getroffen wurde. Selbst der traditione­lle Bankenmyth­os des Landes wankt schwer.

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