In Brüssel bröckelt es
Themen wie Verbrenner, Atomkraft und Klimaneutralität entzweien die EU-Staaten
- Die Liste der Tabuthemen war beim Frühjahrsgipfel in Brüssel so lang, dass das Treffen selbst am Ende recht kurz ausfiel. Die Regierungschefs bekräftigten noch einmal ihre Solidarität mit der Ukraine und sicherten eine Million Artilleriegeschosse für die kommenden zwölf Monate zu. Die EU unterstützt die Ermittlungen und Anklagen des Internationalen Strafgerichts in Den Haag gegen russische Verantwortliche und erneuert, wenn auch in sehr allgemeiner Form, die Beitrittsperspektive für die Ukraine.
So weit der Kitt, der die Gemeinschaft nun seit über einem Jahr zusammenhält. Darunter aber bröckelt es gewaltig. Zwar standen weder die Nachbesserungen beim Verbrenner-Aus noch die Rolle der Kernkraft beim Übergang zu einer CO2-neutralen Wirtschaft oder die Turbulenzen im Bankensektor Donnerstag oder Freitag auf der Tagesordnung. In zahlreichen Randgesprächen aber drehte sich alles um diese Themen.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Olaf Scholz frühstückten gestern zusammen – nach übereinstimmender Auskunft war das eine harmonische und, laut Scholz, sogar fröhliche Angelegenheit. Es gebe keine Dissonanzen in der Autofrage, sagte Macron auf Nachfrage. „Ohne das zwischen Rat und Parlament erzielte Ergebnis infrage zu stellen, arbeiten wir an einem technischen Ausweg, um einen Kompromiss mit Deutschland über e-Fuels zu finden“, kündigte er an. Die italienische Premierministerin Giorgia Meloni wiederholte am Ende des Gipfels nochmals ihre Forderung, auch mit Biodiesel betriebene Pkw nach 2035 weiter zuzulassen. Ähnlich wie die FDP verlangt sie „Technologieoffenheit“von der EU-Kommission.
Es gehe dabei gar nicht um Grundsätzliches, betonte der Kanzler. Das sei eine Überspitzung der Medien. „Jeder respektiert die unterschiedlichen Wege, die die Länder gehen. Das ist ja wohl das Normalste von der Welt.“Auf die Frage, ob Deutschland mit den von Frankreich geforderten und von der Kommission angekündigten Vergünstigungen für Atommeiler der jüngsten Generation leben könnte, antwortete Olaf Scholz nicht. Auf die möglichen Verwerfungen in der Koalition angesprochen, die sich durch den schwebenden Autostreit mit Brüssel verschärfen könnten, sagte Scholz betont heiter: „Ich weiß, dass Journalismus auch ein Unterhaltungsbusiness ist, und Sie es deshalb ganz doof finden, dass wir uns einfach einigen. Aber das wird schon passieren – ziemlich zügig.“
Mit Blick auf die Turbulenzen auf dem Schweizer Bankenmarkt und den Kurssturz bei der Deutschen Bank sieht Scholz keinen
Grund zur Sorge. „Die EU und die Eurozone sind durchaus vorneweg, was klare Regeln angeht.“Eine gute Bankenaufsicht, ausreichende Kapitalausstattung, das führe zu Stabilität. Ähnlich äußerten sich am Ende des Gipfels andere Chefs von Ländern mit Eurowährung. Stumm blieben allerdings Gastgeber Charles Michel und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Ganz kurzfristig sagten sie die für Ende des Treffens geplante Pressekonferenz mit der Begründung ab, man habe ja schon am Vortag alles Wichtige besprochen.
Diese Erklärung nahm vor allem dem stets auf Öffentlichkeit bedachten und sich gern reden hörenden Michel niemand ab. Beobachter vermuteten vielmehr, dass in der angespannten Lage auf dem Bankensektor alles vermieden werden sollte, was die fragile Lage negativ beeinflussen könnte. Die wachsende Kritik am schwachen Ratsmanagement des Belgiers mindert das nicht. Bereits im Februar hatten sich mehrere Regierungschefs über die schlechte Vorbereitung der Treffen beschwert.
Ende kommenden Jahres endet Michels zweite und letzte Amtszeit als Ratspräsident. Mit knapp 50 Jahren ist er viel zu jung für den politischen Ruhestand. Auf der Suche nach einem attraktiven Anschlussposten reise er zu allen wichtigen internationalen Tagungen und vernachlässige darüber die mühselige Kompromissfindung auf europäischer Ebene, wird beklagt. Wer sich die Ratserklärungen der vergangenen Monate anschaut, kann diese Kritik nachempfinden. Zwar fasst die Gemeinschaft regelmäßig konkrete Beschlüsse zum Ukraineproblem. In allen anderen drängenden Fragen begnügt man sich aber mit Allgemeinplätzen.