Jagdszenen auf hoher See
Der unkontrollierte Fang von Tintenfischen in Hochseegebieten wächst rasant – Meeresbiologen fordern verschärfte Regeln
Illegale Fischerei sorgt bei Meeresschützern zu Recht für viele Sorgenfalten. Allerdings spiegeln solche Aktivitäten nur einen Teil der Schwierigkeiten für die Ökosysteme der Ozeane wider. Ein Team um Katherine Seto von der University of California in Santa Cruz weist jetzt in der Zeitschrift „Science Advances“auf ein ebenfalls riesiges Problemfeld hin: In den letzten Jahren explodieren die Mengen von Tintenfischen, die weit überwiegend auf hoher See dort aus dem Wasser geholt werden, wo es keinerlei Regeln für solche Fänge gibt.
„Diese dramatische Entwicklung zeigt, dass wir diese unregulierte Fischerei besser als bisher kontrollieren müssen“, überlegt Henning von Nordheim. Der Meeresbiologe lehrt an der Universität Rostock Meeresnaturschutz und hat bis Anfang 2020 eine Abteilung gleichen Namens im Bundesamt für Naturschutz geleitet, war aber an der Studie zu den Tintenfischfängen nicht beteiligt. „Das gerade von den Vereinten Nationen vereinbarte Abkommen über den weltweiten Schutz der Biodiversität der Hoch- und Tiefsee gibt uns dafür nicht nur Rückenwind, sondern auch den Auftrag“, ergänzt Henning von Nordheim, der als Pionier seit 2001 dieses New Yorker UN-Abkommen mit vorbereitet hat.
Die Gruppe um Katherine Seto hat in ihrer Studie auf Satellitenbildern die Lichter ausgewertet, mit denen Schiffe in der Nacht Tintenfische anlocken. Viele dieser Weichtiere versuchen tagsüber, die Begegnung mit Feinden zu vermeiden, indem sie in größeren und dunkleren Wassertiefen schwimmen. Nachts aber jagen sie an der Oberf läche selbst nach Beute und nähern sich dort hellen Lichtern, die sie möglicherweise mit einem potenziellen Paarungspartner verwechseln. Die so gefangenen Tiere werden tiefgefroren zum Beispiel als „Calamares“gerne auch in mitteleuropäischen Supermärkten verkauft. Das Angebot ist groß, aus den Satellitendaten schloss das Team jedenfalls, dass die Kopffüßer in den vier untersuchten Regionen der Weltmeere im Jahr 2020 an rund einer Viertel Million Schiffstagen gefangen wurden.
Dieser Wert hatte 2017 noch bei 149.000 Schiffstagen gelegen, war also in nur vier Jahren um 68 Prozent gestiegen. Dabei verzeichneten die Satellitendaten für die beiden Regionen im Südwesten des Atlantiks weit vor den Küsten Argentiniens und Brasiliens sowie im Nordwesten des Pazifiks vor den Küsten Japans weitgehend unveränderte oder sogar leicht rückläufige Aktivitäten der Tintenfisch-Fangflotten, während die Lichter im Südosten des Pazifiks weit vor den Küsten von Peru und Ecuador sowie vor allem im Nordwesten des Indischen
Ozeans zwischen der Arabischen Halbinsel und Indien rasant stiegen.
Diese Zahlen lassen bei Meeresschutzexperten die Alarmglocken schrillen, weil die tatsächlich aus dem Meer geholten Mengen von Tintenfischen ebenfalls stark nach oben schießen dürften. Und das mit 86 Prozent der auf Satellitenbildern entdeckten Lichter vor allem in Meeresregionen, in denen der Fang von Tintenfischen gar nicht kontrolliert wird. Dabei handelt es sich um Hochseegebiete außerhalb der 200-Seemeilen-Zonen, in der die jeweiligen Anrainerstaaten die Ausbeutung der wirtschaftlichen Ressourcen kontrollieren dürfen. In den nicht regulierten Regionen
sprechen sich die Beteiligten dagegen normalerweise kaum ab – und die Schiffe holen unbehindert von Quoten und Einschränkungen meist so viele Tintenfische wie möglich aus dem Wasser. Diese internationalen Gewässer können daher leicht übernutzt werden, Schäden an den Ökosystemen sind möglich. Probleme haben aber auch viele Küstenländer, weil viele Tintenfische weite Strecken wandern und ihnen so vor der eigenen Wirtschaftszone weggefangen werden können.
Mithilfe des über Satelliten arbeitenden Automatischen Identifikationssystems AIS, mit dem kommerzielle Schiffe auf internationalen Routen ab einer Größe
von 300 Bruttoregistertonnen ausgerüstet sein müssen, konnte die Gruppe um Katherine Seto viele Schiffe identifizieren, die hinter den Lichtern der Tintenfischfänger stecken. Allerdings gelang das bei weniger als der Hälfte der Beobachtungen, weil mehr als 60 Prozent der Schiffe ihr AIS ausgeschaltet hatten. Von den identifizierten Fahrzeugen wiederum waren mehr als 90 Prozent in China registriert, die offensichtlich auch den starken Anstieg der Aktivitäten im Nordwesten des Indischen Ozeans verantworten.
Solche Zahlen legen nahe, dass auch in den unregulierten Gebieten die Fänge von Tintenfischen kontrolliert werden sollten, um Übernutzungen zu vermeiden und um zu verhindern, dass den oft mit kleinen Schiffen arbeitenden Küstenfischern die Meerestiere unmittelbar vor der nationalen Wirtschaftszone vor der Nase weggefangen werden. Oder, dass Gebiete direkt neben bestehenden Meeresschutzgebieten leer gefischt werden und so auch die Schutzzonen stark in Mitleidenschaft gezogen werden können.
Dabei könnte sich das nagelneue UN-Abkommen zum Schutz der Hohen See sogar auf ein vorhandenes Regelwerk stützen. Haben die Vereinten Nationen doch bereits 1995 ein Übereinkommen auf den Weg gebracht, das die Fischbestände in internationalen
Gewässern stabil halten und die Meeresökosysteme dort schützen soll. Unter diesem Dach entstanden weltweit bereits 17 regionale Fischerei-Management-Organisationen (RFMO), in denen alle Beteiligten zusammenarbeiten. Diese RFMOs funktionieren sehr unterschiedlich, einige bestehen fast nur auf dem Papier. „Besonders gut klappt es in der North East Atlantic Fisheries Commission NEAFC, die alle Fischereien in Hochseegebieten zwischen dem Mittelatlantischen Rücken und den europäischen Atlantikküsten vom Süden Spaniens bis zum Nordpol koordiniert“, erklärt Henning von Nordheim. Dort arbeitet die Fischereiindustrie sehr gut mit, um die Bestände und damit die Fänge in diesem Gebiet zu sichern.
Allerdings haben die allermeisten dieser RFMOs nur die Fische, nicht aber Kopffüßer wie die in den Küchen vieler Regionen beliebten Calamares im Blick. „Neben einer Ausweitung auf Tintenfische, andere Weichtiere und Krebse sollten die RFMOs daher generell auf den Prüfstand, um ihre Arbeit zu optimieren“, meint Henning von Nordheim. „In den Gebieten, in denen noch keine RFMOs vorhanden sind, sollten sie sehr bald gegründet werden“, ergänzt der Meeresschutzspezialist. Das UN-Abkommen zum Schutz der Hochsee scheint also genau rechtzeitig zu kommen.