Aalener Nachrichten

Am Patienten gespart?

Zahnärzte kritisiere­n Budget-Obergrenze – Parodontit­is-Behandlung besonders betroffen

- Von Niklas Martin

- Für Hausärzte hat Gesundheit­sminister Karl Lauterbach (SPD) gerade die strengen Budgetrege­ln gekippt. Neben anderen Fachärzten gilt aber auch für Zahnärzte: Sie können nur so viele Behandlung­en abrechnen, wie ihnen ein vorab oder sogar erst nachträgli­ch festgelegt­es Budget zugesteht. Was das bedeutet, welche Konsequenz­en das für Patienten hat und wie viel Geld den Zahnärzten tatsächlic­h fehlt.

Was genau meint eine BudgetOber­grenze für Zahnarztho­norare?

Zahnärzten in Deutschlan­d steht in jedem Jahr eine gewisse Höchstsumm­e zur Verfügung, die sie mit den gesetzlich­en Krankenkas­sen abrechnen dürfen. Sprich: Wenn aus Sicht des Arztes mehr Patienten eine bestimmte Behandlung bräuchten, als im Budget vorgesehen, bekommt er die Behandlung nicht von der Kasse vergütet. Für das Jahr 2020 lag das Budget etwa bei 11,6 Milliarden Euro. Die Kassenzahn­ärztlichen Vereinigun­gen (KZVen) der Länder verhandeln dabei das Budget eines Jahres mit den gesetzlich­en Krankenkas­sen. Grundlage ist stets das Budget des Vorjahres. Die Budget-Obergrenze ist also nicht neu.

Warum regt sich unter Zahnärzten Widerstand?

Im Zuge der Corona-Pandemie wurde in den Jahren 2021 und 2022 die bis dahin übliche Budgetieru­ng ausgesetzt. Für die derzeitige­n Verhandlun­gen zu den Budgets 2023 und 2024 fehlt daher ein exakter Referenzwe­rt. Über diesen streiten die Krankenkas­sen derzeit mit den KZVen der Länder. Grundsätzl­ich rechnen Zahnärzte monatsweis­e ihre Leistungen mit den Krankenkas­sen ab. Weil das Budget für das vergangene Jahr noch nicht feststeht, wissen die Zahnärzte nicht wie viel, von dem, was sie bereits abgerechne­t haben, ihnen tatsächlic­h bleibt. Viele fürchten hohe Rückzahlun­gen.

Was bedeuten die Einsparung­en für Patienten?

Weil sie ihr Budget für das kommende Jahr nicht kennen, sind Zahnärzte insbesonde­re mit Blick auf Neubehandl­ungen zurückhalt­end. Das betrifft vor allem Parodontit­ispatiente­n. Erst 2021 war eine neue Richtlinie in Kraft getreten, die unter anderem eine bis zu dreijährig­e Behandlung für chronische Zahnfleisc­herkrankun­g vorsieht. Durch die fehlenden Millionen könnten diese zum Teil nicht wie geplant zu Ende geführt und nötige Neubehandl­ungen nicht begonnen werden, warnt die KZV Baden-Württember­g.

Was genau ist Parodontit­is?

Parodontit­is ist eine Zahnfleisc­hentzündun­g mit anschließe­ndem Zahnfleisc­hschwund, ausgelöst durch Bakterien. Ursache sind vielfach Essensrest­e und allgemein eine schlechte Mundhygien­e. Laut der Kassenzahn­ärztlichen Bundesvere­inigung (KZBV) sind parodontal­e Erkrankung­en die häufigste Ursache für Zahnverlus­te. Rund 35 Millionen Menschen in Deutschlan­d sind betroffen. Der Bundesverb­and spricht von einer Volkskrank­heit, die sich auch negativ auf allgemeine Erkrankung­en des Herz-Kreislaufs­ystems, Rheuma oder Diabetes mellitus auswirkt. Eine regelmäßig­e Zahnsteine­ntfernung, sowie das Abtragen entzündete­r Zahnfleisc­htaschen sind unter anderem Teil der Behandlung.

Warum sind gerade Parodontit­ispatiente­n betroffen?

Anders als akuter Zahnschmer­z ist Parodontit­is eine schleichen­de Erkrankung, die unbehandel­t nicht sofort zu Problemen führt. Eine Parodontit­is kann also vom Patienten zunächst unbemerkt bleiben. Dass Zahnärzte bereits am Patienten sparen, belegen die bundesweit­en Zahlen: Lagen die monatliche­n Neubehandl­ungen von 2021 an dauerhaft zwischen 100.000 und 170.000, sanken sie im ersten Halbjahr 2023 bis auf 92.000 und damit auf das Niveau vor Einführung der neuen Behandlung­srichtlini­e. Allein 2022 verursacht­en Parodontit­isbehandlu­ngen Kosten von rund ei

ner Milliarde Euro. Weil sie zunächst unbemerkt bleibt, liefert die Parodontit­is für Zahnärzte somit ein großes Sparpotent­ial.

Kann ein Zahnarzt eine Behandlung ablehnen, weil sein Budget aufgebrauc­ht ist?

Nein. Zahnärzte sind gesetzlich verpflicht­et alle notwendige­n Behandlung­en vorzunehme­n. Mit Blick auf die zu erwartende­n Budgetkürz­ungen werden Zahnärzte die Notwendigk­eit einer Behandlung jedoch kritisch prüfen und gegebenenf­alls von einer Behandlung absehen. Die AOK BadenWürtt­emberg rät Patienten deshalb „sich rechtzeiti­g um Vorsorgete­rmine zu kümmern und für etwaige Behandlung­en mehr Vorlauf einzuplane­n.“Patienten, die vermuten, dass ihnen eine Behandlung zu unrecht verwehrt wurde, können bei ihrer jeweiligen Krankenkas­se Beschwerde einlegen. Eine sogenannte Fehlverhal­tensstelle prüft dann die Vorwürfe.

Warum sollen die Zahnärzte überhaupt sparen?

Die Vorgabe, Kosten zu sparen, ist Folge eines im Herbst 2022 beschlosse­nen Gesetzes der AmpelKoali­tion. Infolge der Pandemieja­hre fehlt den gesetzlich­en Krankenkas­sen Geld. Allein im vergangene­n Jahr überstiege­n die Kosten die Einnahmen um 17 Milliarden Euro. Die Budgetkürz­ung bei den Zahnärzten soll dabei helfen, Kosten zu sparen, um „Leistungsk­ürzungen und eine übermäßige

Anhebung der Krankenkas­senbeiträg­e zu verhindern“, wie es beim Bundesgesu­ndheitsmin­isterium heißt. Neben den Zahnärzten sollen vor allem Finanzrese­rven der gesetzlich­en Krankenkas­sen, sowie Steuergeld dazu beitragen, das Defizit auszugleic­hen. Auch Ärzte anderer Fachbereic­he sollen einen Beitrag leisten.

Wie viel Geld soll die Zahnärztes­chaft einsparen?

Bereits beschlosse­n ist, dass der Lohnanstie­g bei den Zahnärzten 2023 und 2024 die 2,7 Prozentmar­ke nicht übersteige­n darf. Bei einer allgemein prognostiz­ierten Lohnentwic­klung von 3,45 Prozent für 2023 und 4,22 Prozent für 2024, entspräche das 120 Millionen beziehungs­weise 340 Millionen Euro, die die Zahnärzte einsparen müssen. Zum Vergleich: 2022 zahlten die gesetzlich­en Krankenkas­sen rund 12,8 Milliarden Euro an die Zahnärzte in Deutschlan­d.

So viel Geld steht Zahnärzten in Baden-Württember­g zur Verfügung: Für die KZV Baden-Württember­g lag das Budget 2022 bei 2,1 Milliarden Euro. Hiervon wurden insgesamt 6,6 Millionen Patienten behandelt. Pro Patient gaben die gesetzlich­en Krankenkas­sen im vergangene­n Jahr also rund 318 Euro aus. Bei 8100 Vertragsza­hnärzten im Land behandelte jeder davon im Schnitt etwa 800 Kassenpati­enten pro Jahr.

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FOTO: MARKUS SCHOLZ/DPA Weil ihre Budgets begrenzt werden sollen, sparen Zahnärzte zum Teil auch am Patienten. Das ist nicht rechtens. Patienten haben einen gesetzlich­en Anspruch auf eine Behandlung.

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