„Wir brauchen eine positive Vision für Europa und für die Welt, mit weniger tödlicher irregulärer Migration“
Der Forscher Gerald Knaus erklärt, warum er sich wenig von der Reform des europäischen Asylsystems erwartet und wieso er für Abkommen mit sicheren Drittstaaten plädiert
- Gerald Knaus, Leiter der Denkfabrik „Europäische Stabilitätsinitiative“(ESI), tritt für einen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik ein. Dazu gehören für ihn „Migrationsabkommen und auch Vereinbarungen mit sicheren Drittstaaten“. „Das Ziel kann nicht sein, dass Europa keine Flüchtlinge mehr aufnimmt. Es geht um Steuerung und Kontrolle“, sagte Knaus bei einem Redaktionsbesuch in Ravensburg. Der Migrationsforscher war auf Einladung des CDUBundestagsabgeordneten Axel Müller in Ravensburg zu Gast.
Herr Knaus, wenn Sie gefragt werden, wann sich die Zahl der neu ankommenden Migranten in Deutschland reduzieren wird. Was antworten Sie?
Wir wissen nicht, wie der Krieg in der Ukraine verlaufen wird und wie viele Flüchtlinge von dort 2024 kommen werden. 2023 stieg die Zahl derer, die irregulär über das Mittelmeer in die EU kamen, ebenso die Zahl der Asylanträge in Deutschland. Im Koalitionsvertrag finden wir ein überzeugendes Konzept, irreguläre Migration zu reduzieren, aber bislang wurde es noch nicht umgesetzt. Anders als Rechtspopulisten behaupten, ist es möglich, irreguläre Migration zu reduzieren, ohne Menschenrechte aufzugeben. Dazu brauchen wir Migrationsabkommen und auch Vereinbarungen mit sicheren Drittstaaten. Und eine ernsthafte realistische Politik.
Sie haben jetzt nicht die im Dezember beschlossene Reform des europäischen Asylsystems erwähnt, die von der Bundesregierung gerühmt wurde. Warum nicht?
Stellen Sie sich doch selbst die Frage: Was bringen zwölfwöchige Grenzverfahren für Asylbewerber in Italien mit wenig Aussicht auf Erfolg, wenn es danach weiterhin keine Rückführungen aus Italien in die Herkunftsländer geben wird. Dazu kommt: Viele Ägypter haben in Italien bislang oft überhaupt keine Asylanträge gestellt. Sie wurden aber trotzdem nicht abgeschoben. Es gab und gibt auch kaum Abschiebungen in die Elfenbeinküste, nach Guinea oder Bangladesch – aus Italien so wenig wie aus Spanien, Frankreich und Deutschland. Im vergangenen Jahr kamen mehr als 160.000 Menschen über das Mittelmeer nach Italien, und Grenzverfahren werden diese Zahl nicht reduzieren.
Dennoch gibt es Befürchtungen, dass die geplanten Grenzverfahren erneut zu Zuständen führen werden wie auf einigen griechischen Inseln in der Ägäis. Das Lager Moria auf Lesbos hat es ja zu trauriger Berühmtheit gebracht.
Das ist möglich, aber unwahrscheinlich, weil es nicht im Interesse Griechenlands, Italiens und Spaniens wäre. Diese Länder wollen keine überfüllten, chaotischen Lager auf ihren Inseln. Deshalb werden die ankommenden Menschen auch jetzt schon oft schnell aufs Festland gebracht – und ziehen dann weiter. Im Übrigen müssen die geplanten Grenzverfahren nicht an der Außengrenze stattfinden, das kann auch in Mailand sein.
Zusammengefasst würden Sie also sagen: Nach der Reform ist vor der Reform?
Ja. Kaum ein Innenminister in der EU erwartet ehrlicherweise davon einen Durchbruch. Die Lösungen liegen in anderen Formen der Kooperation mit Staaten außerhalb der Europäischen Union. Die haben wir aber noch nicht.
Aber die Bundesregierung macht doch einiges. Sie hat stationäre Grenzkontrollen in Tschechien und der Schweiz veranlasst. Und vor Kurzem wurde ein Gesetz beschlossen, das Rückführungen erleichtern soll. Bringt das auch nichts?
Stationäre Grenzkontrollen gibt es in Österreich seit Jahren, die Zahl der Asylanträge ist dort pro Kopf höher als in Deutschland. Vieles, was Rückführungen in Deutschland erleichtern soll und an sich sinnvoll sein kann, gibt es auch in Österreich schon seit Langem. Und selbst wenn alle, die kommen, registriert wären, könnte Deutschland Asylsuchende später nicht nach Griechenland oder Ungarn zurückschicken. Verwaltungsgerichte stoppen dies, weil dort der Schutz der Menschenwürde nicht gesichert ist.
Sie werben für Abkommen mit sicheren Drittstaaten. Auch der britische Regierungschef Rishi Sunak kämpft dafür, Asylverfahren nach Ruanda auszulagern. Aber ganz so einfach ist es wohl doch nicht.
Man kann von der Erfahrung in Großbritannien sehr viel lernen, leider auch, wie eine vernünftige Idee durch dilettantische Umsetzung zu Recht von Gerichten gestoppt wurde. Die britischen Tories haben die offensichtliche Tatsache ignoriert, dass es in einem sicheren Drittstaat auch glaubhafte Asylverfahren geben muss, und diese in Ruanda fehlten. Hätten die britischen Regierungen dies von vornherein ernst genommen, wären sie auch nicht vor Gericht gescheitert. Denn es gibt seit 2019 schon Transfers von Asylsuchenden aus Libyen nach Ruanda, aber danach macht der UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, die Asylverfahren.
Das heißt, die britische Regierung torpediert die Idee, für die sie kämpft.
Ja. Auch die Gerichte in London erklärten, im Prinzip wäre eine solche Lösung nicht im Widerspruch zum internationalen Recht. Länder wie Deutschland, Dänemark und Österreich könnten sofort zeigen, wie sich so irreguläre Migration reduzieren ließe und sich selbst Großbritannien als sichere Drittstaaten anbieten.
Sie könnten vorschlagen, dass sie vom 1. Februar an jeden, der in ein Boot aus der EU nach Großbritannien fährt, zurücknehmen. Das sind im Winter etwa 1500 im Monat, aber nach zwei Monaten würde es niemand mehr versuchen. Im Gegenzug sollten die Briten ab jetzt jedes Jahr 20.000 Asylsuchende oder Flüchtlinge aus unseren Ländern legal aufnehmen. Das würde allen helfen, außer den Schmugglern. Es würde zeigen, wie Abkommen mit sicheren Drittstaaten ohne Widerspruch zu gültigem Recht funktionieren könnten. Das könnte Bundeskanzler Scholz sofort machen – und dafür werben wir auch.
Wäre das die Blaupause, um es dann mit anderen Staaten zu probieren?
Ja. Es würde die Diskussion sofort versachlichen. Wir würden uns dann so verhalten wie die Türkei 2016 gegenüber der EU, als die
Türken angeboten haben, vom Stichtag 20. März an, Leute von den Inseln in Griechenland zurückzunehmen, um die irreguläre Migration zu reduzieren. Wenn eine Gruppe von EU-Staaten den Briten anböte, ihnen dabei zu helfen, könnte auch der brandgefährliche Versuch, hier die Europäische Menschenrechtskonvention auszusetzen, beendet werden. Es wäre auch ein Modell für andere Länder. Bei Verhandlungen mit Senegal, Marokko oder der Türkei hätten wir eine sehr viel glaubhaftere Position, wenn wir uns selbst als sichere Drittstaaten anbieten.
Die Idee, Flüchtlinge gegen Geld oder Zugeständnisse bei der Visavergabe mit ärmeren Ländern zu tauschen, verstößt in Ihren Augen nicht gegen europäische Werte?
Seit Anfang 2014 sind mehr als 28.000 Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen. Wenn man die Zahl der Toten auf dem
Weg nach Europa drastisch reduzieren kann, ohne das Recht auf Zugang zu einem fairen Asylverfahren einzuschränken, wenn etwa dann der UNHCR wie in Ruanda die Verfahren machen würde, dann ist es destruktiv zu erklären, es sei unvorstellbar, selbst für eine kleine Zahl von Asylsuchenden in stabilen Ländern in Afrika glaubhafte Asylverfahren zu machen. Wenn wir dann, inspiriert vom Beispiel Kanadas, eine größere Zahl schutzbedürftiger Menschen legal aufnehmen, die nicht mehr ihr Leben riskieren müssen, wäre das auch aus moralischer Sicht ein großer Fortschritt. Wir brauchen heute eine positive Vision für Europa und für die Welt, mit weniger tödlicher irregulärer Migration, dem Ziel null Tote im Mittelmeer und mehr legalen Wegen für Flüchtlinge.
Warum sind dann die Vorbehalte so groß?
Ich verstehe nicht, warum jemand, der sich für Flüchtlingsrechte einsetzt, nicht für ein solches humaneres System eintritt. Der größte Menschenrechtsskandal in der EU heute ist die Kooperation mit Libyen. Wir wissen, dass von 2017 bis Ende 2023 ungefähr 100.000 Menschen vom Mittelmeer nach Libyen zurückgebracht wurden – mit finanzieller und logistischer Unterstützung der EU. Wir wissen, dass viele dieser Menschen gefoltert, ausgebeutet und vergewaltigt werden. Wenn wir das durch Verfahren unter humanen Umständen durch den UNHCR in Ruanda ersetzen, gewinnen der Flüchtlingsschutz, die Moral und die Menschenrechte.
Was macht Sie so sicher, dass irreguläre Migration in die EU aufhören wird, sollte es Abkommen mit sicheren Drittstaaten geben?
Es muss klar sein, dass es aussichtslos ist, sein Leben auf dem Meer zu riskieren und Schmuggler zu bezahlen, weil man zurückgebracht wird. Der EU-TürkeiFlüchtlingsdeal hat gezeigt, dass das Wirkung zeigt. In den zwölf Monaten vor dem 20. März 2016 ist in der Türkei eine Million Menschen in Boote gestiegen. In den zwölf Monaten danach waren es nur noch 26.000, die Zahl ist schnell drastisch gefallen. Dafür mussten die Türken nicht einmal ihren Grenzschutz massiv verstärken, es reichte eine Presseerklärung und ein glaubwürdiger Stichtag für Rückführungen. Das geht aber nur mit Partnern an den EU-Außengrenzen und sicheren Drittstaaten.
Wenn es so einfach ist, wieso wird es dann nicht umgesetzt?
Im Koalitionsvertrag der Ampel heißt es explizit, das Ziel der Regierung ist, irreguläre Migration zu reduzieren und dafür – in Ausnahmefällen – Asylverfahren in Drittstaaten möglich zu machen. Das wäre ein echter Paradigmenwechsel. Nun wurde das als Ziel beim Bund-Länder-Treffen im vergangenen November erneut bekräftigt. Ich bin überzeugt, dass Politiker das rechtfertigen und erklären könnten. Es bräuchte jetzt politische Führung und den Mut, etwas zu tun, was kurzfristig überrascht, aber langfristig viel humaner ist. Es geht nicht um die Auslagerung von Schutzbedürftigen in ärmere Länder, sondern darum, lebensgefährliche Migration zu ersetzen durch legale Wege und Kontrolle.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat Migrationsabkommen mit sechs weiteren Ländern – unter anderem Marokko, Usbekistan und Kirgistan – angekündigt. Was erwarten Sie von diesen Abkommen?
Diese Abkommen sind im besten Fall kleine Beiträge für einen nötigen Paradigmenwechsel, erste Schritte, um Vertrauen aufzubauen. Ein Beispiel: Wenn wir ein Abkommen mit dem Irak hätten, mit einer Stichtagsregelung, nach der jeder, der kommt und keinen Schutz braucht, schnell zurückgenommen wird, könnten Zehntausende jetzt ausreisepflichtige Iraker in Deutschland bleiben, aber es würden viel weniger neue hinzukommen. Das wäre eine realistische und humane Kontrolle.
Die meisten Asylbewerber kommen aber nach wie vor aus Syrien, Afghanistan und auch aus der Türkei. Was machen wir mit denen?
Für sie brauchen wir eine wiederbelebte EU-Türkei-Erklärung. Wir bieten der Türkei an, jedes Jahr auch Syrer aus der Türkei aufzunehmen, aber die sollen nicht mehr in Boote steigen und über den Balkan ziehen. Im Gegenzug müsste die Türkei irregulär eingereiste Migranten wieder zurücknehmen. Dann würden uns auch mehr syrische Frauen und Kinder erreichen. Das Ziel kann nicht sein, dass Europa keine Flüchtlinge mehr aufnimmt. Es geht um Steuerung und Kontrolle. Das würde auch Rechtspopulisten den Wind aus den Segeln nehmen, die vom großen Bevölkerungsaustausch schwadronieren.
Hilft das auch gegen diejenigen, die bei Geheimtreffen über die Vertreibung von Millionen Menschen aus Deutschland diskutieren?
Nein, denn menschenverachtende Rassisten gäbe es weiterhin. Aber das wären dann wenige Prozent, die es in jeder Gesellschaft gibt, die einfach nicht akzeptieren wollen, dass Menschen mit Migrationshintergrund oder anderen Religionszugehörigkeiten Teil der Gesellschaft sind, und die diese deshalb durch schlechte Behandlung vertreiben wollen. Das Problem ist ein anderes: Wenn die demokratischen Parteien beim Thema Migration konzeptlos wirken, dann können auch Rechtspopulisten sagen: Wir sind die Einzigen, die Lösungen haben. Diese Lösungen basieren allerdings auf der kompletten Zerstörung der Menschenrechtsarchitektur in Europa.