Ein Knochenfund und viele Fragen
Zweijähriger Émile vor neun Monaten in Südfrankreich verschwunden – Polizei findet Schädel des Jungen
- Der Bürgermeister des südfranzösischen Alpendorfes Le Vernet ist derzeit ein gefragter Mann. Immer wieder muss sich François Balique zum Fund der Überreste des zweijährigen Émile äußern, die nach neunmonatiger Suche am Osterwochenende von einer Spaziergängerin entdeckt wurden. „Wir kennen weder das Datum noch den Ort noch die Todesursache“, zitiert die Zeitung „Le Parisien“den Rentner, der seit Jahrzehnten Bürgermeister von Le Vernet, 170 Kilometer nördlich von Marseille, ist.
Balique war wie die meisten der 130 Einwohner seines Dorfes überrascht, dass Schädel und Zähne des Jungen gut einen Kilometer entfernt im Unterholz lagen. Denn das Gebiet, wo die Spaziergängerin die Knochen fand, war in den vergangenen Monaten mehrmals intensiv abgesucht worden – mit Hunden, Wärmekameras und aus der Luft. Im Sommer zogen dort die Wanderer durch, im Herbst die Jäger. Die Gemeinde ließ außerdem einige Bäume fällen, ohne dass jemand etwas bemerkte.
Es gebe eine „minimale“Wahrscheinlichkeit, dass die Ermittler die Überreste von Émile bei ihrer Suche übersehen hätten, sagte Polizeisprecherin Marie-Laure Pezant in einem Radiointerview. Das Gebiet am Fuße des Massivs Trois Evêchés sei sehr steil und schwer zugänglich. Es kann allerdings auch sein, dass die Knochen damals noch nicht am Fundort lagen. Sie könnten durch die starken Regenfälle der vergangenen Tage dorthin gespült worden sein. Auch ein Tier oder ein Mensch könnten die Überreste dorthin gebracht haben. „In diesem Stadium werden alle Hypothesen geprüft“, bemerkte Pezant.
Erst am Donnerstag hatten die Ermittler einen Tag lang den Fall Émile, der seit Monaten ganz Frankreich beschäftigt, mit der Familie und den Augenzeugen nachgestellt. Das Kind war am 8. Juli nachmittags aus dem Haus seiner Großeltern verschwunden, wo es die Ferien verbrachte. Zwei Zeugen sahen Émile noch eine Straße entlang gehen, danach fehlte jede Spur. In den ersten Tagen nach seinem Verschwinden suchten 800 Freiwillige, Polizisten und Feuerwehrleute vergeblich nach dem Zweijährigen.
Seit dem Fund des Schädels sind erneut rund hundert Polizistinnen und Polizisten mit Spürhunden, Drohnen und Wärmebildkameras im Einsatz. „Wir lassen die Besten kommen“, sagte der zuständige Kommandeur der
Gendarmerie. Es fehlen sowohl die Kleider des Jungen als auch die restlichen Knochen. Denn dass die Gerichtsmediziner nur anhand des Schädels die Todesursache finden, ist eher unwahrscheinlich. Es sei denn, der Junge bekam einen Schlag auf den Kopf oder verletzte sich bei einem Sturz.
Bürgermeister Balique sperrte den oberen Teil seines Dorfes, wo das Kind verschwand, für eine Woche ab, damit die Polizei ihre Suche ungehindert fortsetzen kann. „Ich kann nicht aufhören zu glauben, dass ein Erwachsener an dieser Angelegenheit beteiligt ist. Émile wäre nie allein dorthin gegangen, wo man ihn gefunden hat“, sagte Balique dem „Parisien“. Die Eltern hatten am Wochenende über ihren Anwalt reagiert. „Auch wenn diese herzzereißende Nachricht befürchtet wurde, ist jetzt die Zeit der Trauer,
der Besinnung und des Gebets“, hieß es in einer Erklärung.
Die Großeltern Émiles, die in der Nähe von Aix-en-Provence leben, hatten das Ferienhaus in Le Vernet vor rund 20 Jahren gekauft und verbringen seither zusammen mit ihren zehn Kindern regelmäßig den Sommer dort. Marie, die Mutter von Émile und der einjährigen Alaïs, ist die Älteste des streng gläubigen Clans. Ihre Geschwister, von denen das jüngste sieben Jahre alt ist, werden zu Hause unterrichtet, statt in die staatliche Schule zu gehen. Der Vater des Jungen gehörte zur rechtsextremen Gruppierung Bastion Social, die 2019 aufgelöst wurde. In den Wochen nach dem Verschwinden lebten mehr als ein Dutzend Mitglieder der Familie abgeschottet im Haus der Großeltern. Nur einmal täglich kam ein Priester, um die Messe zu feiern.