Ein Hauch von Champagner
Vor 100 Jahren hat die im württembergischen Allgäu gelegene Farny-Brauerei ihr Kristallweizen entwickelt. Das Bier machte eine ungewöhnliche Karriere.
- Das Wichtigste steht ausgerechnet im Nachsatz eines 100 Jahre alten Briefes: „Gestern haben wir 115 Kisten Weizen, die erste Flasche bis zur letzten, glanzhell abgefüllt!“Diese Worte gelten der im württembergischen Allgäu beheimateten FarnyBrauerei als erster schriftlicher Nachweis für ein entscheidendes Getränk: das Kristallweizen. Ein Bier, das nicht nur das Unternehmen groß machte, sondern letztlich von dort aus auch seinen Weg in die Ferne fand.
Eine erstaunliche Entwicklung, wenn man sich den Ort des Geschehens vor Augen führt: das Hofgut Dürren zwischen Kißlegg und Wangen im Tal der Unteren Argen. Selbst heutzutage ist es überschaubar: ein Ensemble aus historischen Gebäuden wie der stillgelegten Altbrauerei oder dem Gasthof, dem vor wenigen Jahren erbauten Tagungshotel, dazu noch die moderne Betriebsstätte westlich der durchs Tal führenden A 96.
Vor einem Jahrhundert muss einem Besucher aber alles noch kleiner erschienen sein. Statt der Autobahn verlief beim Hofgut eine baumgesäumte Chaussee für den traditionellen Nord-Süd-Verkehr. Eine alte Werbetafel zeigt pferdebespannten Biertransport. Auf zeitgenössischen Bildern wirkt Dürren wie die Verkörperung ländlicher Idylle und nicht wie ein Ort von bierseligen Innovationen.
Dennoch fängt zumindest die bekannte Geschichte des Kristallweizens hier 1924 an. Der Name weist den Weg zur Sortenfamilie: den Weizenbieren. Brauer nehmen für sie nicht nur Malz aus Gerste. Sie greifen zudem vermehrt zu Weizen.
Weit verbreitet ist die Angewohnheit, solche Biere mit Hefeschwebstoffen an den durstigen Kunden zu bringen – als trübes Hefeweizen jedem Jünger des sagenhaften Biererfinders Gambrinus bekannt. Dem entgegen steht das filtrierte Kristallweizen. Hefeablagerungen fehlen. Es sollte brillant klar sein – eben wie ein Kristall.
Den Umstand, dass dies gelungen ist, feiert Farny heuer unter anderem mit einer dreitägigen Sause. Das erste Fass wird am 19. April angestochen. Wobei dieser Tag mit Blick auf die Geburt des Kristallweizens etwas aus der Luft gegriffen ist. Wann genau es tatsächlich erstmals den Braukessel verlassen hat, weiß keiner. Bloß das Jahr steht unumstritten fest.
Der oben aus dem Brief zitierte Satz bringt jedoch eine weitere zeitliche Annäherung. Die Abfüllnachricht ergänzt einen auf den 11. Juli 1924 datierten Brief. Der damalige Brauereichef Oskar Farny schrieb ihn an seine offenbar auswärts befindliche Frau Elisabeth. Anlass war ihr siebter Hochzeitstag. Nach textlichen Liebeleien hängte er die Weizennachricht an. Sie war ihm offenbar wichtig gewesen. Durchaus verständlich, denn die Neuentwicklung sollte neuen Schwung in die vor sich hin dümpelnde ländliche Brauerei bringen.
Der Betrieb bestand damals bereits seit 91 Jahren, einst gegründet von Konrad Kugel, einem Schankwirt auf dem Hofgut Dürren. 1856 heiratete Eustach Farny ein, übernahm die Brauerei. Entscheidend fürs Biergeschäft – wie für die Familiengeschichte – wird aber sein Enkel, besagter Oskar Farny, ein höchst facettenreicher Mensch: 1891 geboren, Offizier, Unternehmer, Jäger, Agrarlobbyist, konservativer Politiker, Landesminister und am Lebensschluss zusammen mit seiner Frau 1983 Gründer der gemeinnützigen Farny-Stiftung, in welche die Brauerei eingebracht wurde.
Von ihm stammt ein gerne in Dürren zitierter Spruch: „In Vino veritas – im Farny-Bier steckt auch etwas.“Dass in Wein Wahrheit liegt, wenn er nicht gerade wie zu Zeiten des Glykol-Skandals in den 1980er-Jahren gepanscht ist, wissen Genießer seit Urzeiten. Was sich aber etwa in Farnys Kristallweizen verbirgt, bleibt in dieser Bemerkung offen. Woran sich übrigens nichts geändert hat. Nimmt man Kontakt zum 1. Braumeister auf, zum gemütlich wirkenden Wolfgang Sigg, fallen unbestimmte Antworten: „Dazu kann ich nichts sagen“oder „das ist intern“.
Anders ausgedrückt: Die exakte Rezeptur des Kristallweizens ist so geheim wie die legendäre Coca-Cola-Formel, die angeblich sogar in einem Panzerschrank ruht. Dermaßen extrem soll es in Dürren nicht zugehen. Gesagt wird aber, dass nur Sigg und der 2. Braumeister Daniel Neugebauer die Rezeptur beherrschen.
Zusammengestellt wurde sie von ihrem legendären Vorgänger Wilhelm Zeitler. Dieser hatte laut Überlieferung immer mal wieder von den Leuten der Gegend gehört, sie würden sich ein anderes Bier wünschen – eines, das nicht so „bäbbig“sei. Gemeint ist mit klebrig wohl das seinerzeit weitverbreitete Dunkelbier. Es hat ein malzbetontes Aroma. Was von dem einen oder anderen Trinker als „bäbbig“verstanden werden kann. Jedenfalls ließ Oskar Farny seinen Braumeister experimentieren. Das Ziel: ein spritzig-frisches Bier.
Ganz neu war die Idee eines Weizen ohne Heferückstände nicht. Doch Zeitler schaffte anerkanntermaßen den Durchbruch, ein solches Bier für die Massenproduktion herzustellen. Die Lösung lag wohl in einem speziellen kreativen Umgang mit der Hefe. Er verletzte zwar vorerst herrschende behördliche Bestimmungen, wurde aber 1929 höchst amtlich genehmigt.
Fortan hübschte das neue Bier die Bilanz auf – und tut dies bis heute. „Kristallweizen ist unsere Brot- und Butter-Sorte“, betont der langjährige Farny-Geschäftsführer Elmar Bentele, ein stämmiger Mann mittleren Alters. Wie er sagt, macht es „über 40 Prozent der Produktion aus“. Rund 55 Leute arbeiten dafür. Die Gesamtmenge der hergestellten Biersorten, also auch Helles oder Export, lag im vergangenen Jahr bei rund 100.000 Hektoliter.
Zur Einordnung: Die ganz großen Brauereien in Deutschland, etwa Krombacher oder Oettinger, füllen jährlich ungefähr vier bis sechs Millionen Hektoliter ab. Bei solchen Mengen erscheint es fast schon wieder kurios, wenn man sich Oskar Farnys Brief vor Augen führt: Gerade mal 115 Kisten Weizen sind ihm 1924 eine Anmerkung wert.
Aber es geht ja um den Inhalt. Schon zwei Jahre nach dem ersten Abfüllen erhält das Kristallweizen sogar eine Art Ritterschlag. „Glanzhell und fein moussierend wie Champagner“beurteilen Professoren der bayerischen Hochschule für Landwirtschaft und Brauereien in Weihenstephan das neue Bier vom Hofgut Dürren.
Moussierend steht dabei für das Aufsteigen von Kohlensäurebläschen sowie eine Schaumbildung. Weshalb das Ziehen einer Parallele zum legendären Champagner für die Professoren durchaus nahelag. Dies hatte Folgen bei der Werbung. Farny vermarktete sein Produkt fortan als Champagner-Weizen.
Irgendwann muss dies den Herstellern des richtigen Champagners in der gleichnamigen französischen Region aber aufgestoßen sein. Sie pochten auf die geschützte Ursprungsbezeichnung ihres Schaumweins. Worauf in den 1960er-Jahren die Bezeichnung Champagner-Weizen nach europäischem Recht verboten wurde.
Farny hat es verschmerzen können. Für andere Brauereien, die inzwischen ins Produzieren von Kristallweizen eingestiegen waren, gilt dies wohl auch. Zeitweise errang die Biersorte sogar in manchen Kreisen die Position eines Modegetränks, gerne mit einer Zitronenscheibe im Glas genossen. Wobei Farny-Geschäftsführer Bentele erklärt, die Südfrucht sei „reine Geschmackssache“. Er sagt, hinter dieser Prozedur habe sich die alte Gewohnheit versteckt, bei Hefeweizen den Hefegeschmack zu überdecken.
Verschmitzt und fast schon erwartbar fügt Bentele an: „Wir brauen unser Bier so gut, da braucht es keine Zitrone.“Er hat gegenwärtig gut lachen. Entgegen dem bundesdeutschen Trend konnte die Brauerei im vergangenen Jahr ihren Bierausstoß um 1,7 Prozent steigern. Sie vermeldet für 2023 einen Umsatz von rund 14 Millionen Euro. So viel wie nie zuvor. Mitverantwortlich laut Bentele: das Kristallweizen.
Es scheint nach einer Schwächephase um die Jahrtausendwende herum wieder im Aufschwung zu sein. „Wir verkaufen mehr davon als noch vor zehn Jahren“, berichtet der Geschäftsführer. Wo liegt aber der Grund? Eine firmeninterne Mutmaßung lautet, Kristallweizen sei eben ein geselliges Bier, gut für Feste. Na dann Prost.