Hamburgs wilde Nächte
Was nach den „Dorfpunks“kam: Rocko Schamoni setzt mit „Pudels Kern“die Erzählung seines Lebens fort
Erst Büsum – jetzt die ganze Welt“, heißt es verheißungsvoll am Ende von „Dorfpunks“, dem Roman aus dem Jahr 2004, in dem Rocko Schamoni seine Jugend als Punk im holsteinischen Dorf an der Ostsee beschrieben hat. Büsum, das Nordsee-städtchen mit der Berufsschule, ist für ihn ein ebenso trister Ort wie Ostseeschmalenstedt, Schamonis Heimatnest.
Nun steht er also da, der Dorfpunk-musiker mit dem Künstlernamen Roddy Dangerblood, Mitte der 80er Jahre in der alten Bundesrepublik, das Abschlusszeugnis der wenig geliebten Töpferausbildung in der Tasche und die Zukunft als freier Geist vor sich. Jetzt bloß nicht die Fehler machen, die die Eltern in diesem Alter gemacht haben! „Ich werde mich nicht zum Untergebenen machen lassen, weder zum Sklaven der Familie noch irgendeiner Firma, Religion oder Staatsstruktur, das schwöre ich hiermit feierlich!“
Die Zukunft liegt, wenn man aus der schönen, aber für einen jungen Heißsporn nicht eben aufregenden Holsteinischen Schweiz kommt, natürlich in Hamburg.
Schamoni erzählt im gerade erschienenen Roman „Pudels Kern“sehr unterhaltsam von seinen wilden frühen Jahren in der Hansestadt, 1986 bis 1991.
Als Gedächtnisstütze dienen ihm, wie er einleitend sagt, seine Tagebücher und Kalender aus dieser Zeit.
Er nimmt uns an die Hand und stürzt sich mitten hinein in den Hamburger Untergrund: in die erste räudige Drei-zimmerwohnung im schäbigen Schanzenviertel (für 100 Mark im Monat – Gegenwarts-münchner dürfen hier gerne kurz weinen), in die Punk-läden, vor de
nen uns unsere Eltern immer gewarnt haben: die Marktstuben, das Totenschiff, die Markthalle, die Fabrik.
Hier trifft er neben vielen anderen Punk-größen auch die Mitglieder seiner Lieblingsband Die Goldenen Zitronen. Musik will er selbst auch machen, aber nicht einfach nur Punk: „Ich möchte als eine Art junger Kollege von Elvis Presley aus Las Vegas angeliefert worden sein, mit glamourösem Showanzug und strassbesetztem Sombrero, um mit englischem Slang selbst geschriebene deutsche Schlager zu singen.“
So fremd, wie man als Punk im Showanzug unter Punks ohne Showanzug naturgemäß ist, so fühlt er sich auch im Leben: mitten drin sein, Dinge anstoßen und Menschen zusammenbringen, aber am Ende doch immer alleine sein.
Was in diesen fünf ersten Hamburger Jahren alles passiert, ist ein ständiges Auf und Ab und reicht für ein ganzes Leben. Es ist immer wieder auch saukomisch und schreit nach einer Verfilmung: Für seine Musikerkarriere im Anzug ändert er seinen Namen vom jugendlich-wilden Roddy Dangerblood zum gesetzteren Rocko Schamoni, er erlebt Abenteuerliches mit Musikern wie den Toten Hosen und den Ärzten, ist auch bei deren legendärem Abschiedskonzert in Westerland auf Sylt dabei. Er trifft Helge Schneider, der damals gerade seine erste Bekanntheit erlangt, und holt ihn nach Hamburg. Er nimmt Schallplatten auf, geht auf Tour, trifft und verliert Frauen, dreht Filme, studiert Kunst, eröffnet den illegalen „Pudel Club“, später den legalen „Golden Pudel Club“, in denen sich alles an Künstlern versammelt, was man als Hamburger Schule kennt.
Und er schluckt allerlei Drogen, und das führt uns in die dunklen Seiten des autobiografischen Künstlerromans: Schamoni wird immer wieder heimgesucht von Panikattacken und peinigenden Selbstzweifeln. Zum Erbarmen ist die Szene, in der ihn während einer Interview-reihe ein Angstanfall überkommt und er sich unter einer Kommode verkriecht.
Schamoni erzählt von einem Künstler, der unbedingt Kunst machen will, der Kunst machen muss, auch wenn das oft ins Schattenreich führt, wo die Selbstzweifel über das Nichtgenug-sein schon warten.
Immer wieder aber bringt das wilde Leben, das Schamoni in „Pudels Kern“schildert, sehr schöne Anekdoten hervor. Man zähle etwa die verschiedenen Arten, auf die man in Lokalen in ganz Deutschland lebenslanges Hausverbot bekommt.
Philipp Seidel