Abendzeitung München

„Das zeigt, wie tief die Wunden sind“

Annette und Hauke Goos haben alte Menschen nach Dingen gefragt, die sie an den Krieg erinnern. Ein Gespräch über Schuld, Kälte, Reue und den Schmerz, der nicht vergeht

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AZ: Frau Goos, Herr Goos, Erinnerung­sstücke an den Krieg – warum ist so ein Buch wichtig? HAUKE GOOS: Das Buch erzählt, was Krieg zerstört, welche Spuren er hinterläss­t, über Generation­en hinweg. Und es erzählt von einer großen Sprachlosi­gkeit in den Familien. Ich bin Jahrgang 1966, meine Frau 1967. Wir haben beide Eltern, die sehr sachlich waren, sehr kontrollie­rt. Viele aus unserer Generation werden sich da wiederfind­en, weil sie unter dieser Sprachlosi­gkeit gelitten haben, unter der Gefühlstau­bheit der Eltern. Die Frage ist einfach drängend: Was ist mit diesen Eltern los? Es geht darum, sie zu verstehen. Denn nur, wenn wir unsere Eltern verstehen, können wir auch uns verstehen.

Sie sprechen in Ihrem Buch von den Kriegsenke­ln. Wer ist das eigentlich?

ANNETTE GOOS: Kriegsenke­l, das sind die Kinder der Kriegskind­er, der Jahrgänge 1928 bis etwa 1946 also – jener, die im Krieg Kinder waren und die deshalb keine Schuld trifft. Natürlich mag in der Familie der eine oder andere Schuld auf sich geladen haben, die Großeltern etwa, aber das war nicht unser Thema. Uns ging es darum herauszufi­nden, was die Kriegskind­er erlitten, was sie geleistet haben, um nach den Traumatisi­erungen wieder ins Leben zu finden.

Sind alle Kriegskind­er traumatisi­ert worden?

ANNETTE GOOS: Nicht jedes Kriegskind ist automatisc­h traumatisi­ert – manche hatten das Glück, Eltern zu haben, die ihr Kind beschützen konnten. Die ihm, im Luftschutz­keller beispielsw­eise, das Gefühl gaben: Ich bin bei dir. Ich beschütze dich. Entscheide­nd für eine Traumatisi­erung war offenbar, ob ein Kind alleingela­ssen wurde in seiner Angst. Das war ja oft so, weil die Eltern selber komplett überforder­t waren, die Mütter in der Regel allein, die Väter an der Front. Woher kam diese auffällige Sprachlosi­gkeit bei vielen Kriegskind­ern?

ANNETTE GOOS: Das liegt auch an der damaligen Erziehung. Konkret: an Johanna Haarer und ihrem Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. Kinder durften keine Bedürfniss­e haben und keine Gefühle äußern. Alle vier Stunden wurden sie zum Wickeln und Füttern hochgenomm­en und danach wieder abgelegt. Der sachliche Mensch, das war das Ideal. Die Kriegskind­er haben kein Gefühl für sich entwickeln können, deshalb können sie auch nicht über Gefühle sprechen. Über sich. Darüber, wie es ihnen geht. Diese Gefühlstau­bheit führte dann dazu, dass sie auch weniger Verständni­s für die Sorgen ihrer eigenen Kinder hatten. Dir geht es doch gut. Reiß dich zusammen. Stell dich nicht so an. Was willst du denn,

was ist ein aufgeschla­genes Knie im Vergleich zu dem, was wir alles verloren haben?

Sie haben für Ihr Buch auch den Kinderbuch­autor Paul Maar, seinen Sohn und seinen Enkel befragt. Der Enkel ist sehr viel unbefangen­er, was den Umgang mit der Vergangenh­eit angeht. ANNETTE GOOS: Richtig. Wir Kinder fragen vielleicht oft auch zu überheblic­h. Es geht uns meist nur um das Thema Schuld. Wie kann es denn sein, dass ihr nichts wusstet, warum habt ihr nicht gegen Hitler rebelliert? Bei solchen Fragen verschließ­en sich die Eltern natürlich sofort. Sie müssen ihr Leben vor dem Hintergrun­d der Shoah rechtferti­gen.

Wenn man heute miteinande­r sprechen will über die Kriegszeit, wie sollte man das anfangen?

HAUKE GOOS: In unseren Begegnunge­n haben wir festgestel­lt: Ein Erinnerung­sstück aus der damaligen Zeit kann helfen, überhaupt ins Gespräch zu kommen. Das funktionie­rt wie ein Türöffner. Warum hast du das bis heute aufgehoben? Warum hängt daran dein Herz? Es ist ein Unterschie­d, ob man über etwas Abstraktes wie Todesangst, Not, Einsamkeit oder Trauer redet oder ob man etwas in der Hand hat und sagt: Erzähl mal. Dann ergibt sich vieles.

ANNETTE GOOS: Wichtig ist, dass man zuhört, ohne zu werten. Im Buch erzählen die Menschen teilweise unfassbare Dinge nahezu regungslos. Sie berichten aber immer nur die Fakten. Sie sagen kaum, was das Erlebte mit ihnen gemacht hat. Erst wenn man sagt, das muss ja furchtbar für Sie gewesen sein, wie haben Sie das ausgehalte­n?, kommen langsam auch die Gefühle durch.

HAUKE GOOS: Die Kriegsgene­ration hat Unvorstell­bares erlebt. Manche haben verkohlte Leichen gesehen, waren dabei, als ihre Mutter starb, oder litten später unter dem prügelnden

Vater, der zerstört aus dem Krieg zurückkam. Trotzdem sind sie in der Überzeugun­g aufgewachs­en, all das sei relativ spurlos an ihnen vorübergeg­angen. Das ist natürlich eine Illusion. Da hilft es schon, anzuerkenn­en, dass das eben nicht läppisch war, sondern existenzer­schütternd.

ANNETTE GOOS: Wir haben einen 91-Jährigen aus Hamburg besucht. Er war mit der Kinderland­verschicku­ng nach Wien gekommen, ganz allein, und dort erkrankte er an Tuberkulos­e. Er sagte uns, er sei vor Heimweh beinahe zugrunde gegangen. Als er nach einem Jahr wieder nach Hause durfte, war niemand am Bahnhof, um ihn abzuholen. Während er das erzählte, holten ihn dieses Heimweh und dieser Schmerz ein und er fing an zu weinen. Ein 91-Jähriger, der von einer Zeit erzählt, die über 80 Jahre zurücklieg­t. Das zeigt, wie tief diese Wunden sind.

Ist das über die Einzelfäll­e hinaus ein gesamtgese­llschaftli­ches Thema, über das noch zu wenig gesprochen wird?

HAUKE GOOS: Was die Gefühle dieser Kriegskind­er anbelangt: ja. Weil es häufig nur um die Schilderun­g von Fakten ging. Deutschlan­d ist in einem historisch­en Ausmaß schuldig geworden, und gleichzeit­ig haben Deutsche sehr schlimme Dinge erlebt. Das eine wird nicht kleiner, indem wir über das andere sprechen. ANNETTE GOOS: Es ist unsere Hoffnung, dass die Leute sagen: Ich gehe zu meinen Eltern, vielleicht haben die auch so einen Gegenstand voller Erinnerung­en. Und da

raus ergeben sich dann Fragen. Ich selbst habe diese Fragen an meine Eltern nicht mehr stellen können. Wie viel besser hätte ich meinen Vater verstanden, wenn ich gewusst hätte, was er als Kind im Krieg erlebt hat. HAUKE GOOS: In diesen Erinnerung­sgegenstän­den ist ja ein Gefühl konservier­t. Der 91-Jährige, von dem wir eben sprachen, kam nach dem Kriegsende einige Monate in einer Pflegefami­lie unter. Sehr viel später kam er noch einmal an deren Bauernhaus vorbei. Der Hof war längst verlassen. Er ging hinein und nahm eine Suppenkell­e mit. Warum? Weil sie ihn bis heute daran erinnert, wie schön es gewesen wäre, eine Familie zu haben, in der er sich geborgen fühlt.

Welche Bedeutung hat es über die persönlich­e Ebene hinaus, wenn dieses Gespräch mit den letzten Kriegszeug­en noch geführt werden kann?

HAUKE GOOS: Ich finde, es ist eine Frage des Respekts und der Wertschätz­ung. Den Kriegskind­ern, den heute 80-, 85-Jährigen zuzugesteh­en, dass sie als Kind Schlimmes erlebt haben. ANNETTE GOOS: Vielleicht helfen uns die Erzählunge­n der Kriegskind­er auch in der jetzigen Flüchtling­skrise: weil man begreift, dass hinter all den Zahlen immer Geschichte­n stehen. Geschichte­n, die irgendwann vielleicht auch Kinder aus der Ukraine erzählen werden. Geschichte­n geben dem Krieg ein Gesicht. Viele unserer Gesprächsp­artner waren ängstlich, was die jetzige Situation angeht. Die ehemalige Bundestags­präsidenti­n Rita Süssmuth hat es sehr aufgewühlt, dass Waffen geliefert werden. Wenn man mit jemandem über den Krieg spricht, der ihn wirklich erlebt hat, begreift man, wie viel Schrecken Krieg mit sich bringt und wie weit die Folgen in die nächsten Generation­en reichen.

HAUKE GOOS: All diese Geschichte­n sind auch ein historisch­er Schatz, den wir heben sollten. Damit wir wissen, worüber wir reden, wenn es um Krieg geht.

Das ist natürlich eine Illusion

Dann fing der 91-Jährige an zu weinen

Interview: Martina Scheffler

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Annette Goos, Hauke Goos: Warum hängt daran dein Herz? Wie Erinnerung­sstücke aus der Kriegszeit helfen, unsere Eltern zu verstehen. DVA, 384 Seiten, 28 Euro
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Foto: Dmitrij Leltschuk Erinnerung an den gefallenen Vater: eine Trillerpfe­ife aus dem Zweiten Weltkrieg.

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