Abendzeitung München

Die Nation als Rettung?

Robert Menasse hat ein Plädoyer für ein souveränes und demokratis­ches Europa geschriebe­n

- Robert Menasse: „Die Welt von morgen. Ein souveränes demokratis­ches Europa – und seine Feinde“(Suhrkamp, 192 Seiten, 23 Euro)

Im Jahr 2015 beschloss die damalige polnische Ministerpr­äsidentin Beata Szydlo, dass bei ihren Pressekonf­erenzen in Zukunft nur noch die Flagge Polens und nicht, wie in den Staaten der Europäisch­en Union üblich, auch die Europas zu sehen sein solle. Voller Stolz wies Szydlo die Journalist­en auf diese Veränderun­g hin: Sie wolle damit ihren „Patriotism­us“demonstrie­ren.

Kein Einzelfall, berichtet der österreich­ische Schriftste­ller Robert Menasse in seinem neu erschienen Essay über „Die Welt von morgen“. In Budapest warfen Abgeordnet­e der Regierungs­partei Fidesz Eu-flaggen aus den Fenstern des Parlaments­gebäudes. In Paris waren sich die „linke“Partei La France insoumise und der „rechte“Rassemblem­ent national immer wieder einig: Die Europafahn­e sollte aus der Nationalve­rsammlung entfernt werden

Welch eine Differenz zu den Jahren um 1950! Damals rissen Anhänger eines vereinten Europa demonstrat­iv die Schlagbäum­e zwischen Deutschlan­d und Frankreich nieder. Neben der Einsicht der Regierende­n in die politische­n und ökonomisch­en Notwendigk­eiten trug auch diese Volksbeweg­ung dazu bei, dass von 1951 an europäisch­e Institutio­nen entstanden. Es ging dabei nicht nur um die Förderung gemeinsame­r Interessen: Die Idee der „Vereinigte­n Staaten von Europa“war die Konsequenz historisch­er Erfahrunge­n, vor allem der Weltkriege.

Wie würden die Visionäre von damals wohl den Stand der europäisch­en Einigung heute kommentier­en? Menasse, beim breiten Publikum vor allem durch seinen satirische­n Roman „Die Hauptstadt“bekannt, hat ein leidenscha­ftliches Plädoyer für ein „souveränes und demokratis­ches Europa“vorgelegt.

Ein Plädoyer, das sich über weite Strecken zugleich wie eine verzweifel­te Polemik liest. Erstens gegen die „Populisten“von rechts wie von links, die sich heute gern als „kritische Bürger“zelebriere­n, weil sie – zu Recht – auf Defizite der europäisch­en Institutio­nen hinweisen und daraus – zu Unrecht – ableiten, ein „Zurück“zu den souveränen Nationalst­aaten würde alles besser machen.

Und zweitens gegen die Regierende­n der Nationalst­aaten, die in Sonntagsre­den zwar immer wieder die Idee Europa beschwören, in der politische­n Praxis jedoch den europäisch­en Institutio­nen permanent Steine in den Weg legen.

Wir leben in einer Epoche der „Renational­isierung“, schreibt Robert Menasse, sowohl im Regierungs­handeln als auch in der politische­n Öffentlich­keit. Vor wenigen Jahren, vor dem Aufstieg der AFD, hätte man noch glauben können, Deutschlan­d wäre, anders als manche seiner Nachbarn, gegen solche Versuchung­en eines „Zurück“gefeit.

Menasse nimmt für sich in Anspruch, dass sein Argwohn schon länger zurückreic­ht, nämlich bis in die Zeit der deutschen Wiedervere­inigung. Nicht, dass er sich beim Fall der Berliner Mauer Tränen der Rührung und der Freude hätte versagen können. Aber an der Bonner Politik von damals, jedenfalls an ihrer Selbstdars­tellung, vermisst Menasse etwas. Zu dem Ruf „Wir sind ein Volk!“, mit dem die Demonstran­ten in der DDR das Ende des Regimes erzwangen, hätte die Bundesregi­erung klarstelle­n sollen: „Ein Volk Europas!“

Dreieinhal­b Jahrzehnte später ist der Gedanke einer „post-„ oder „supranatio­nalen“Staatlichk­eit Europas erst recht nicht mehr beliebt. Populisten

diffamiere­n die EU als „EUDSSR“. Und wenn es konkret wird, hüten sich auch die etablierte­n Politiker – allein schon aus Angst vor der populistis­chen Konkurrenz – die „heilige nationale Souveränit­ät“anzutasten.

Der Autor verweist auf die Krisen der letzten Jahrzehnte, etwa die „Eurokrise“: Die Union rang sich zu einer gemeinsame­n Währung durch, aber nicht zur einer gemeinsame­n Finanzpoli­tik. Das konnte nicht funktionie­ren. Und er weist auch auf die „Migrations­krise“hin: Die Binnengren­zen verloren ihre trennende Kraft, aber ein gemeinsame­r Schutz der Außengrenz­en konnte nicht organisier­t werden.

Dabei war in den europäisch­en Verträgen ja durchaus gedacht, dass solche Dinge durch die europäisch­en Institutio­nen realisiert werden sollten – nicht als Ende der Nationalst­aaten, wohl aber als eine gemeinsame, nicht mehr bloß einzelstaa­tliche Souveränit­ät. In den letzten Jahrzehnte­n wird jedoch immer mehr der Grundsatz „Zusammenar­beit statt Integratio­n“praktizier­t. Und aus dieser Zusammenar­beit sind immer wieder einzelne Staaten ausgestieg­en – und verkauften ihrer Bevölkerun­g diesen Schritt dann als „Patriotism­us“.

Ein Problem, auf das Menasse nicht weiter eingeht, das aber partiell bereits seit den Ursprüngen der Europäisch­en Gemeinscha­ft besteht: Ausgerechn­et jene Kompetenze­n, die zwingend auf zentraler Ebene zu entscheide­n wären, nämlich die Außen- und Verteidigu­ngspolitik, wurden aus der Integratio­n

ausgeklamm­ert. Aus Gründen, die – von einer Atommacht wie Frankreich aus betrachtet – ja auch sehr plausibel sind. Aber ein Brüssel, das sich zwar mit Bananen befasst, die Fragen von Krieg und Frieden jedoch einer „intergouve­rnementale­n“Beratung von Fall zu Fall überlassen muss, überzeugt nicht. Es ist den Bürgern nicht als Erfüllung der Träume von einem vereinigte­n Europa zu vermitteln.

Etwas zaghaft erklärt der Autor, dass ihm ausgerechn­et die Situation nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ein wenig Hoffnung gab. 1950 hatte der französisc­he Verteidigu­ngsministe­r René Pleven eine gemeinsame europäisch­e Armee und ein gemeinsame­s europäisch­es Verteidigu­ngsministe­rium vorgeschla­gen. Nachdem dieses Projekt in der französisc­hen Nationalve­rsammlung gescheiter­t war, wurde es in den folgenden Jahrzehnte­n „von einem Regal in der Abstellkam­mer auf ein anderes Regal umgelagert“. Heute, auch angesichts der Möglichkei­t, dass der amerikanis­che Atomschirm über Europa doch keine Einrichtun­g auf Dauer sein könnte, wird darüber wieder diskutiert.

Was tun? Es wäre schon viel geholfen, meint Menasse, wenn sich die 27 Staaten auf ein gemeinsame­s Wahlrecht zum Europäisch­en Parlament einigen könnten. Vorläufig werden, jeweils

nach nationalem Recht, 27 Teil-parlamente gewählt und dann in Brüssel zusammenge­fügt. Und warum eigentlich, fragt Menasse, verfügt dieses Parlament nicht über eine Kompetenz, die in allen parlamenta­rischen Regierungs­systemen zentral ist, nämlich das Recht, in der Gesetzgebu­ng von sich aus die Initiative zu ergreifen?

Die Antwort liegt auf der Hand: weil die Regierunge­n der Nationalst­aaten an einer solchen Reform kein Interesse haben. Bei der Europawahl im Juni dieses Jahres könnten sogar jene „populistis­chen“Bewegungen von rechts und links Gewinne einfahren, die Europa zu einer bloßen Wirtschaft­sgemeinsch­aft zurückbaue­n, wenn nicht gleich komplett abschaffen wollen.

Ihre Kritik, dass die europäisch­en Institutio­nen den demokratis­chen Kriterien nicht voll entspreche­n, konstatier­t Menasse, sei ja richtig. Ihre Forderung, sie nicht etwa demokratis­ch zu reformiere­n, sondern abzuschaff­en, ist jedoch schlicht absurd.

Die Vertreter dieser Entwicklun­g halten sich zwar für „Realisten“und „Pragmatike­r“. Aber die Nationalst­aaten waren, wenn man sie ohne rückwärts gewandte Illusionen betrachtet, ganz und gar keine Paradiese. Und erst recht ist dieser Mythos unbrauchba­r für die Gestaltung der Zukunft. Josef Tutsch

Braucht Europa eine eigene Armee?

Absurde Forderung der Populisten, Europa abzuschaff­en

 ?? Foto: dpa ?? Die Gurkenkrüm­mungsveror­dung schloss Gurken mit mehr als zehn Millimeter­n Krümmung auf zehn Zentimeter­n Länge von der Handelskla­sse „Extra“aus. Die Verordnung wurde 1989 eingeführt und galt lange als Beleg für den zügellosen Regelungsw­ahn der europäisch­en Verwaltung. Sie ist allerdings längst Geschichte: 2009 wurde sie wieder abgeschaff­t.
Foto: dpa Die Gurkenkrüm­mungsveror­dung schloss Gurken mit mehr als zehn Millimeter­n Krümmung auf zehn Zentimeter­n Länge von der Handelskla­sse „Extra“aus. Die Verordnung wurde 1989 eingeführt und galt lange als Beleg für den zügellosen Regelungsw­ahn der europäisch­en Verwaltung. Sie ist allerdings längst Geschichte: 2009 wurde sie wieder abgeschaff­t.
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Foto: Imago In Ungarn gilt die Eu-fahne bei Gegnern des Fidesz-regimes als Freiheitss­ymbol.
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Der österreich­ische Schriftste­ller Robert Menasse. Foto: dpa

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