Die Nation als Rettung?
Robert Menasse hat ein Plädoyer für ein souveränes und demokratisches Europa geschrieben
Im Jahr 2015 beschloss die damalige polnische Ministerpräsidentin Beata Szydlo, dass bei ihren Pressekonferenzen in Zukunft nur noch die Flagge Polens und nicht, wie in den Staaten der Europäischen Union üblich, auch die Europas zu sehen sein solle. Voller Stolz wies Szydlo die Journalisten auf diese Veränderung hin: Sie wolle damit ihren „Patriotismus“demonstrieren.
Kein Einzelfall, berichtet der österreichische Schriftsteller Robert Menasse in seinem neu erschienen Essay über „Die Welt von morgen“. In Budapest warfen Abgeordnete der Regierungspartei Fidesz Eu-flaggen aus den Fenstern des Parlamentsgebäudes. In Paris waren sich die „linke“Partei La France insoumise und der „rechte“Rassemblement national immer wieder einig: Die Europafahne sollte aus der Nationalversammlung entfernt werden
Welch eine Differenz zu den Jahren um 1950! Damals rissen Anhänger eines vereinten Europa demonstrativ die Schlagbäume zwischen Deutschland und Frankreich nieder. Neben der Einsicht der Regierenden in die politischen und ökonomischen Notwendigkeiten trug auch diese Volksbewegung dazu bei, dass von 1951 an europäische Institutionen entstanden. Es ging dabei nicht nur um die Förderung gemeinsamer Interessen: Die Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“war die Konsequenz historischer Erfahrungen, vor allem der Weltkriege.
Wie würden die Visionäre von damals wohl den Stand der europäischen Einigung heute kommentieren? Menasse, beim breiten Publikum vor allem durch seinen satirischen Roman „Die Hauptstadt“bekannt, hat ein leidenschaftliches Plädoyer für ein „souveränes und demokratisches Europa“vorgelegt.
Ein Plädoyer, das sich über weite Strecken zugleich wie eine verzweifelte Polemik liest. Erstens gegen die „Populisten“von rechts wie von links, die sich heute gern als „kritische Bürger“zelebrieren, weil sie – zu Recht – auf Defizite der europäischen Institutionen hinweisen und daraus – zu Unrecht – ableiten, ein „Zurück“zu den souveränen Nationalstaaten würde alles besser machen.
Und zweitens gegen die Regierenden der Nationalstaaten, die in Sonntagsreden zwar immer wieder die Idee Europa beschwören, in der politischen Praxis jedoch den europäischen Institutionen permanent Steine in den Weg legen.
Wir leben in einer Epoche der „Renationalisierung“, schreibt Robert Menasse, sowohl im Regierungshandeln als auch in der politischen Öffentlichkeit. Vor wenigen Jahren, vor dem Aufstieg der AFD, hätte man noch glauben können, Deutschland wäre, anders als manche seiner Nachbarn, gegen solche Versuchungen eines „Zurück“gefeit.
Menasse nimmt für sich in Anspruch, dass sein Argwohn schon länger zurückreicht, nämlich bis in die Zeit der deutschen Wiedervereinigung. Nicht, dass er sich beim Fall der Berliner Mauer Tränen der Rührung und der Freude hätte versagen können. Aber an der Bonner Politik von damals, jedenfalls an ihrer Selbstdarstellung, vermisst Menasse etwas. Zu dem Ruf „Wir sind ein Volk!“, mit dem die Demonstranten in der DDR das Ende des Regimes erzwangen, hätte die Bundesregierung klarstellen sollen: „Ein Volk Europas!“
Dreieinhalb Jahrzehnte später ist der Gedanke einer „post-„ oder „supranationalen“Staatlichkeit Europas erst recht nicht mehr beliebt. Populisten
diffamieren die EU als „EUDSSR“. Und wenn es konkret wird, hüten sich auch die etablierten Politiker – allein schon aus Angst vor der populistischen Konkurrenz – die „heilige nationale Souveränität“anzutasten.
Der Autor verweist auf die Krisen der letzten Jahrzehnte, etwa die „Eurokrise“: Die Union rang sich zu einer gemeinsamen Währung durch, aber nicht zur einer gemeinsamen Finanzpolitik. Das konnte nicht funktionieren. Und er weist auch auf die „Migrationskrise“hin: Die Binnengrenzen verloren ihre trennende Kraft, aber ein gemeinsamer Schutz der Außengrenzen konnte nicht organisiert werden.
Dabei war in den europäischen Verträgen ja durchaus gedacht, dass solche Dinge durch die europäischen Institutionen realisiert werden sollten – nicht als Ende der Nationalstaaten, wohl aber als eine gemeinsame, nicht mehr bloß einzelstaatliche Souveränität. In den letzten Jahrzehnten wird jedoch immer mehr der Grundsatz „Zusammenarbeit statt Integration“praktiziert. Und aus dieser Zusammenarbeit sind immer wieder einzelne Staaten ausgestiegen – und verkauften ihrer Bevölkerung diesen Schritt dann als „Patriotismus“.
Ein Problem, auf das Menasse nicht weiter eingeht, das aber partiell bereits seit den Ursprüngen der Europäischen Gemeinschaft besteht: Ausgerechnet jene Kompetenzen, die zwingend auf zentraler Ebene zu entscheiden wären, nämlich die Außen- und Verteidigungspolitik, wurden aus der Integration
ausgeklammert. Aus Gründen, die – von einer Atommacht wie Frankreich aus betrachtet – ja auch sehr plausibel sind. Aber ein Brüssel, das sich zwar mit Bananen befasst, die Fragen von Krieg und Frieden jedoch einer „intergouvernementalen“Beratung von Fall zu Fall überlassen muss, überzeugt nicht. Es ist den Bürgern nicht als Erfüllung der Träume von einem vereinigten Europa zu vermitteln.
Etwas zaghaft erklärt der Autor, dass ihm ausgerechnet die Situation nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ein wenig Hoffnung gab. 1950 hatte der französische Verteidigungsminister René Pleven eine gemeinsame europäische Armee und ein gemeinsames europäisches Verteidigungsministerium vorgeschlagen. Nachdem dieses Projekt in der französischen Nationalversammlung gescheitert war, wurde es in den folgenden Jahrzehnten „von einem Regal in der Abstellkammer auf ein anderes Regal umgelagert“. Heute, auch angesichts der Möglichkeit, dass der amerikanische Atomschirm über Europa doch keine Einrichtung auf Dauer sein könnte, wird darüber wieder diskutiert.
Was tun? Es wäre schon viel geholfen, meint Menasse, wenn sich die 27 Staaten auf ein gemeinsames Wahlrecht zum Europäischen Parlament einigen könnten. Vorläufig werden, jeweils
nach nationalem Recht, 27 Teil-parlamente gewählt und dann in Brüssel zusammengefügt. Und warum eigentlich, fragt Menasse, verfügt dieses Parlament nicht über eine Kompetenz, die in allen parlamentarischen Regierungssystemen zentral ist, nämlich das Recht, in der Gesetzgebung von sich aus die Initiative zu ergreifen?
Die Antwort liegt auf der Hand: weil die Regierungen der Nationalstaaten an einer solchen Reform kein Interesse haben. Bei der Europawahl im Juni dieses Jahres könnten sogar jene „populistischen“Bewegungen von rechts und links Gewinne einfahren, die Europa zu einer bloßen Wirtschaftsgemeinschaft zurückbauen, wenn nicht gleich komplett abschaffen wollen.
Ihre Kritik, dass die europäischen Institutionen den demokratischen Kriterien nicht voll entsprechen, konstatiert Menasse, sei ja richtig. Ihre Forderung, sie nicht etwa demokratisch zu reformieren, sondern abzuschaffen, ist jedoch schlicht absurd.
Die Vertreter dieser Entwicklung halten sich zwar für „Realisten“und „Pragmatiker“. Aber die Nationalstaaten waren, wenn man sie ohne rückwärts gewandte Illusionen betrachtet, ganz und gar keine Paradiese. Und erst recht ist dieser Mythos unbrauchbar für die Gestaltung der Zukunft. Josef Tutsch
Braucht Europa eine eigene Armee?
Absurde Forderung der Populisten, Europa abzuschaffen