Aus dem Schlund der Sammlung
Orhan Pamuk breitet im Münchner Lenbachhaus „Den Trost der Dinge“aus seinem Museum in Istanbul und überhaupt seinen Bilderkosmos aus
Ein hochhackiger gelber Damenschuh macht den Auftakt. Darunter steht eine elegante Tasche wie in einer Schaufensterauslage. Die Aufschrift „Sanzelize Butik“– Champs Elysées Boutique – verbreitet Glamour. Doch gleich gegenüber gibt ein medizinisches Modell Aufschluss darüber, wo Liebeskummer besonders wehtut: Rechts, so ein bisschen über der Leber, wird „der schlimmste Schmerz zuerst verspürt“. Dann geht es in die Herzgegend, bald zum Magen, von dem aus sich „Säuren in den gesamten Bauchraum vorarbeiten“. Das steigert sich bei Orhan Pamuk bis zum elften Punkt, dem Mund, der den Liebenden laut aufheulen lässt.
Ist das jetzt tragisch oder eher komisch? Irgendwie beides. Aber auf die „anatomische Verortung des Liebeschmerzes“muss man auch erst einmal kommen. Vorgeführt in einer von immerhin 40 Vitrinen macht sie deutlich, dass hier eine traurige Erzählung zu erwarten ist. Unter dem poetischen Titel „Der Trost der Dinge“breitet der Schriftsteller und Nobelpreisträger seinen märchenhaften wie skurrilen
Kosmos aus – nach dem Semperbau in Dresden nun im Münchner Lenbachhaus. Auf diese Weise geht sein eigenes „Museum der Unschuld“auf Reisen.
Das dunkelrote schmale Gebäude im Istanbuler Stadtteil Çukurcuma hat sich seit der Eröffnung 2012 zu einer Touristenattraktion entwickelt. Mehr als 50 Prozent der Besucher haben den gleichnamigen Roman Pamuks gelesen und wollen eintauchen in diese Welt aus 83 Kapiteln einer fiktiven Liaison, die im Museum auf 83 Vitrinen mit sehr seltsamen Dingen aus dem realen Leben gefüllt sind.
Wie eine wirklich romantische Geschichte hat das „Museum der Unschuld“kein Happy End, denn der Fabrikantensohn Kemal verliebt sich in seine schöne, aber natürlich arme Cousine Füsun. So etwas funktioniert in der Literatur meistens noch schlechter als im normalen Leben, ein glücklicher Ausgang ist in der Dichtung ja auch fad. Deshalb verschwindet die Traumfrau wie eine Fata Morgana, und Kemal bleibt nur, sich mit dem Sammeln von Erinnerungen an die Angebetete zu trösten.
So wie der verlassene Kemal hat Pamuk ein Leben zusammengetragen, mehrere Leben, um genau zu sein, und man braucht das Buch noch nicht einmal zu kennen, um mit der Romanze etwas anfangen zu können, die – und das weitet sie beträchtlich – vor allem den Alltag in der türkischen Metropole
vor Augen führt: etwa durch Schminkutensilien und Kinokarten, geschwungene Tee- und Rakigläser (Alkohol geht erstaunlicherweise immer), Fotos von Filmstars und eine Registrierkasse, das Gebiss des Großvaters im Wasserglas, Nähzeug, Zigaretten, ja sogar den Arm einer Puppe, mit der Füsun gespielt hat.
Man kann sich diesen Relikten kaum entziehen, erfährt dann aber auch ziemlich Nüchternes und ein paar knallharte Tatsachen . So stammen etwa die aus Zeitungen ausgeschnittenen Porträts mit schwarzem Balken über den Augen von „verführten Mädchen“, deren Väter gerichtlich versucht haben, die „Schande“mit einer Heirat zu tilgen. Derlei Prozesse wurden gerne
von der Presse verfolgt. Und egal ob vergewaltigt, freiwillig oder als Prostituierte im Einsatz: Alle landen im ständig köchelnden Topf der Pseudomoral. Ohne Pikser geht es nicht und darf es nicht gehen, wenn man auf eine Stadt und überhaupt auf ein Land blickt, das von Kemal Atatürk erst im Eiltempo ins moderne Europa katapultiert wurde und nun seit Jahren wieder ins Mittelalter zurücktorkelt.
Doch der Zauber überwiegt. Zumal Pamuk die Vitrinen seines Museums für Dresden und München – Prag ist die nächste Station – eins zu eins nachbauen ließ. Ein irrer Aufwand. Als lokales Bonbon kommt allerdings die Beschäftigung mit den jeweiligen Sammlungen hinzu. Neben den unzähligen
Notizbüchern, die vor Zeichnungen, Aquarellen, Gekritzel und dicht beschriebenen Seiten förmlich überquellen, sind das die künstlerisch interessantesten Objekte.
Pamuk wollte ja selbst Maler werden, entschied sich aber, wie der Großvater und der Vater Architektur zu studieren, um „wie Le Corbusier viel Geld zu machen“, bekennt Pamuk im Lenbachhaus. Dann drängte die Schreiberei nach vorne, erst der Journalismus, der Rest ist Literaturgeschichte. Doch irgendwann habe sich die Malerei wieder mehr in den Vordergrund geschoben, Kunst und Literatur seien frei nach Horaz ja auch Schwestern, betont Pamuk, und erst die Moderne habe sie getrennt. Man muss ihm hier nicht unbedingt folgen, Moderne ist ein zur Konturlosigkeit gedroschener Begriff. Aber freilich sind es nicht zuletzt die Bildnerei und die Bilderwelt – genauso die cineastische –, die seine Texte so eindringlich machen. Und das funktioniert auch vice versa.
Wenn sich Pamuk Lieblingswerke vornimmt, dann nicht nur mit dem frischen Blick von außen, sondern mit einer umwerfenden Kenntnis der Kunstgeschichte. Bei den Vitrinen aus Dresden besticht die Auseinandersetzung mit Cranachs Eva, die Pamuk in einen halben Flohmarkt bettet. Und neben Kostbarkeiten aus dem Grünen Gewölbe liegt ein altes Telefon. Warum nicht? Alles war mal Wunder und gehört in eine Wunderkammer.
In München ist es Paul Klee, der Pamuks Fantasie anstachelt und dessen „Engel“oder „Waldbeere“er mit osmanischen Schriftzeichen versieht. Klee hätte das ganz sicher gefallen. Und Alfred Kubin müsste sich womöglich vor Lachen schütteln – in Anbetracht der Berühmtheiten, die der türkische Kollege aus dem krötenhaften Maul spazieren lässt.
Das ist ungemein anregend, in diesem Kosmos kommt man der Welt ziemlich leicht abhanden. Auf der anderen Seite konnte Orhan Pamuks Karriere nur in dieser Folge so dermaßen gut verlaufen. Christa Sigg
Bis 13. Oktober im Lenbachhaus, Di bis So 10 bis 18, Do bis 20 Uhr, Katalog (Hanser, 272 S., 33 Euro)