„Märchen bieten ganz klare Positionen“
Warum schon Kinder ab drei Jahren mit Wolf, Stiefmutter oder Hexe etwas anfangen können, erklärt hier eine Märchen-expertin
Die Diskussion, sagt Professor Kristin Wardetzky aus Berlin, ist so alt wie Märchen selbst: Sind Geschichten über Wölfe, die Geißlein fressen, Stiefmütter, die schöne Stieftöchter mit Äpfeln vergiften, und Eltern, die Bub und Mädchen im Wald aussetzen, zu brutal für Kinder? Nein, findet Wardetzky. Warum das so ist, erklärt die Märchen-expertin im Gespräch.
AZ: Frau Wardetzky, welches Märchen hat Sie als Kind fasziniert und welches Märchen hat Ihnen als Kind Angst gemacht? KRISTIN WARDETZKY: Ich kann mich nicht erinnern, dass mir ein Märchen Angst gemacht hat. Ich kann mich aber intensiv an ein Märchen erinnern, das ich wirklich geliebt habe: Darin geht es um ein Mädchen, das ein Hemd aus Brennnesseln knüpfen muss, um einen ihrer Brüder zu erlösen. Diese Aufgabe schien unlösbar, ich erinnere mich an die Qualen, die das Mädchen erlebte. Da war ich selbst drei oder vier Jahre alt.
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Meine ältere Schwester oder meine Mutter, eine Grundschullehrerin, haben mir das vorgelesen.
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Die einen sagen: Märchen sind für kleine Kinder viel zu brutal. Die anderen sagen: Das Leben ist brutal, es schadet nicht, das im jungen Alter zu lernen. Wie beurteilen Sie diese Diskussion? Die Diskussion ist alt und dauert bis heute an. Insbesondere in den 70er Jahren wurde sie in Westdeutschland sehr vehement geführt und ist bis heute nicht verstummt. Das Vorurteil, dass Märchen zu grausam sind, wird nach wie vor rekapituliert. Dabei gibt es fundierte Gegendarstellungen. Kinder im Alter von drei oder vier Jahren haben noch kein differenziertes Weltbild. Für sie gibt es nur Gut oder Böse. Diese Polarisierung ist also in diesem jungen Alter etwas ganz Selbstverständliches, und darauf basieren Märchen. Und man darf eines nicht vergessen, was nur dem Märchen eigen ist: Das Böse verschwindet am Ende immer komplett aus der Welt. Die Kinder lernen dadurch Vertrauen in die Lösbarkeit grässlicher Konflikte. Sie verstehen: Ich kann davon ausgehen, dass das Böse verschwindet. Ich habe die Kraft dazu, etwas gegen das Böse zu tun. Es liegt an mir. Das stärkt das Selbstvertrauen der Kinder, denn sie identifizieren sich mit ihren Lieblingsfiguren, denen es gelingt, das Böse aus der Welt zu schaffen.
In welchem Alter kann man Kinder an Märchen heranführen?
Ab drei, vier Jahren. In diesem Alter haben Kinder eine verblüffende Offenheit für Märchen. Ich habe das bei meinen Enkelkindern bemerkt: Es ist erstaunlich, wie schnell die Kinder die Märchen im Ohr haben und diese auch immer wieder exakt so hören wollen.
Sie haben vorhin schon die Identifikation mit einer Lieblingsfigur angesprochen. Was bedeutet das für Kinder?
Die Identifikation mit einer Figur ist besonders stark im Märchen, weil die Figuren keine differenzierten Charaktere sind. Die Kinder schlüpfen gleichsam in die Rolle ihrer Lieblingsfigur und agieren in der Fantasie ebenso wie diese. Kinder erleben in ihrem Alltag viel, Streitereien zwischen den Eltern, Verwandten oder mit anderen Kindern. Sie müssen sich immer irgendwie innerlich positionieren
‚‚ – ein schwieriger Prozess. Märchen bieten ganz klare Positionen, als Grundlage für später notwendige Differenzierungen.
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Wenn man jetzt aber in der heutigen Zeit zum Beispiel „Schneewittchen“liest, dann stolpert man doch über Manches: So erlauben die sieben Zwerge Schneewittchen nur, bei ihnen zu bleiben, wenn sie dafür den Haushalt schmeißt...
...natürlich sind Märchen von einem bestimmten Frauenbild geprägt, nicht nur in den Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen. Aber vor Pauschalisierungen sollte man sich hüten. Da steht zum Beispiel das bekannte Märchen vom „Froschkönig“in allen sieben Ausgaben, die die Grimms selbst betreut haben, an erster Stelle. Und was geschieht darin? Die Königstochter ist anfangs ganz brav, gehorcht dem Vater, hält sich an ihr Versprechen. Aber als der Frosch, vor dem ihr graut, sogar in ihr Bett will, gehorcht sie plötzlich nicht mehr und klatscht ihn an die Wand. Sie emanzipiert sich – und wird mit einem Königs
sohn belohnt. Oder bei „Frau Holle“: Natürlich ist die spätere Goldmarie sehr fleißig und macht alles, was man von ihr verlangt. Aber irgendwann sagt sie zu Frau Holle: „Ich habe den Jammer nach Hause gekriegt.“Sie sagt „Ich“, sie sagt, was s i e möchte, sie bringt sich selbst ins Spiel. Und in dem Moment lässt Frau Holle sie gehen und beschenkt sie mit Gold. Oder: Im Märchen von den „Drei Spinnerinnen“steht im Zentrum ein extrem faules Mädchen, das nicht etwa geläutert wird, sondern am Ende sogar den Königssohn zum Mann bekommt. Man sieht also: Eine Vereinseitigung der Grimm’schen oder der internationalen Märchen ist fatal.
Beispiel Hänsel und Gretel: Die verarmten Eltern setzen ihre Kinder im Wald aus. Manche Kinder fragen dann: Haben die Eltern die Kinder denn nicht lieb? Wie erklärt man das? Diese Reaktion der Kinder ist erst einmal richtig. Hänsel und Gretel in den Wald zu schicken, wo es wilde Tiere und kein Essen gibt, bedeutet, sie in den Tod zu schicken. Das tun nur Eltern, die ihre Kinder nicht lieben. Wenn ich meinen Enkelkindern Hänsel und Gretel erzähle, ist mir übrigens wichtig, zu betonen, dass hier Gretel die Aktive ist. Gretel vernichtet letztendlich die Hexe, also die Inkarnation des Bösen. Als die Kinder wieder nach Hause zurückkommen, ist es der Vater, der sie glücklich in die Arme nimmt – die Mutter gibt es nicht. Eine meiner Enkeltöchter hat einmal gesagt: „Die Mutter ist bestimmt die Hexe.“Und da ist was dran: Die Hexe ist ein Aspekt der Mutter, die die Kin
vernichten will. An diesem Beispiel sieht man die subtile Wahrnehmung von Kindern. Kinder können richtig interpretieren, sie haben ein feines Gespür dafür.
Wie kann man den Wolf, der für Kinder vor 200 Jahren durchaus noch eine reale Bedrohung war, ins Jahr 2024 übertragen und den Kindern heute erklären, was gemeint ist?
Märchen sind kein Eins-zueins-abbild der Realität. Wölfe im Märchen sind Inkarnationen des Bösen schlechthin. Sie sind Symbolfiguren, keine Tiere aus einem Naturkundebuch. Sie stehen für eine plötzlich auftauchende lebensbedrohliche Gefahr und provozieren Gegenkräfte. Man sollte den Kindern die Interpretation selber überlassen, sie können etwas damit
anfangen. Märchen zeigen den Kindern: Wir haben extreme Kräfte in uns, in unseren Muskeln, in unseren Köpfen, um solche Unholde zu besiegen. Auch Figuren wie „Harry Potter“scheinen zeitlos, und zahllose Kinder auf der ganzen Welt identifizieren sich mit ihm. Aber was unterscheidet Märchen letztlich doch von anderen Kinderbüchern?
Es ist die Vereinfachung. Die Charaktere im Märchen sind Prototypen. Erst wir machen sie zu Individuen. Und: Märchen haben in der Regel die gleiche Struktur, Kinder verinnerlichen das schnell. Es gibt ein auslösendes Moment, die Isolation des Helden oder der Heldin, das heißt sie sind plötzlich allein, ganz auf sich selbst gestellt. Dann gibt es die Konfrontation mit Gegenspielern, oftmals auch Helferfiguren, die zum Beispiel die soziale Kompetenz der Protagonisten testen. Dann treffen Held oder Heldin und Gegenspieler am Höhepunkt aufeinander. In den meisten Fällen gibt es erst einmal kein Happy End, sondern ein retardierendes Moment, das das gute Ende hinauszögert. Dann aber geht alles gut aus. Diese Grundstruktur finden wir in Märchen aus aller Welt, und das unterscheidet sie von der klassischen Kinderliteratur.
Was bedeutet diese Vereinfachung, diese immer wiederkehrende Struktur für Kinder?
Es ist beispielsweise spannend zu sehen, dass Grundschulkinder, die aus anderen Ländern zu uns nach Deutschland kamen, vielleicht Traumatisches erlebt haben, dem Märchenerzählen mit ungeteilter Aufmerksamkeit folgen, obwohl sie kaum Deutsch sprechen. Ihr Mund formt unbewusst die fremden Laute mit, und ihre Augen blitzen vor Vergnügen. Sie kombinieren die Mimik und Gestik der Erzählenden intuitiv mit ihrem Vorwissen, das gespeist ist durch traditionelle Geschichten aus ihren Herkunftsländern. Sie schöpfen aus diesem Repertoire und überbrücken damit Lücken im Verständnis der neuen Sprache.
Dabei ist die Sprache in den Märchen doch sehr eigen.
Ja, das stimmt, aber dieser Abder
stand zur Umgangssprache markiert ja unter anderem auch den Abstand zwischen Realität und Zauber- oder Wunderwelt des Märchens. Deshalb ist für Kinder diese sprachliche Ebene nach meiner Erfahrung keine Barriere. Märchen sind mit ihren sprachlichen Gegebenheiten auch eine Möglichkeit, Kinder an Literatur heranzuführen. Sie lernen den Umgang mit Formulierungen, die über die Alltagssprache hinausgehen. Zum Beispiel solch ein Satz wie „Und er wuchs in allen Tugenden heran“, das ist eine wunderbare Literaturschulung für Kinder. Kinder verstehen das. Ich habe
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Projekte begleitet, da haben Kinder ihre eigenen Märchen geschrieben. Sie übernehmen diese Formulierungen.
Das stärkt das Selbstvertrauen der Kinder
Gretel vernichtet letztendlich die Hexe
Aber Kinder finden des Rätsels Lösung
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Welche Lehre aus den Märchen fasziniert Sie am meisten?
Zu verstehen, dass in mir die Kraft steckt, dass ich sogar Situationen, die bis zum Tode bedrohlich sind, lösen kann. Ich schaffe das! Mit einem Kollegen Dirk Nowakowski habe ich ein Buch herausgebracht, in dem wir Märchen aus der ganzen Welt gesammelt haben, in denen Kinder die entscheidende Idee haben, aus einer Bedrohung herauszufinden. Erwachsene haben in diesen Geschichten vor der scheinbaren Unlösbarkeit des Konfliktes kapituliert, aber Kinder finden des Rätsels Lösung. Wir haben das Buch „Kinder schaffen das“betitelt. Und wollen wir nicht alle ein friedliches Miteinander haben wie am Ende eines Märchens?