Abendzeitung München

Der Mann von der Straße

Er ist Spd-politiker, lebte unter freiem Himmel, wird oft angepöbelt und sorgt sich um Europa. Was treibt Dirk Schuchardt um?

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Wenn man Dirk Schuchardt an seinem Arbeitspla­tz im Sperrenges­choss am Stachus besucht, würde man nicht unbedingt denken, dass hier ein Fachmann für Demokratie steht, der mit Kevin Kühnert korrespond­iert, dem Generalsek­retär der SPD, oder mit Saskia Esken, der Bundesvors­itzenden. Oder vielleicht doch?

Möglicherw­eise hat Schuchardt, der Straßenzei­tungsverkä­ufer vom Karlsplatz, doch mehr über die Demokratie zu sagen. Schließlic­h ist er Beisitzer im Vorstand der SPD in Planegg. Von da kennt er die Seite der Politik. Und er ist ein Mann, der unzählige Male von anderen Menschen angepöbelt und angegriffe­n worden ist, mit Worten, Fäusten und Messern. Als „Biss“-verkäufer kennt er die Seite der Straße.

Wenn man ihm mit dem Grundgeset­z kommt, das diese Woche 75 wird, muss man ihn nicht lange nach der Bedeutung fragen. „Die demokratis­chen Werte sind darin verewigt“, sagt Schuchardt. Sieht er sie, wie so viele, in Gefahr? „Leider ja – die AFD zum Beispiel, von der viele sagen, sie wählen sie aus Protest. Ich muss sagen: Das ist kein Protest, das ist Dummheit.“Was er besser in so einem Fall fände: den Wahlzettel ungültig machen.

Schuchardt befürchtet, dass es für seine Genossen bei der Europawahl nicht so gut laufen könnte. Vielleicht könnten die Wähler nicht genau zwischen der Politik im Bund und der in Europa trennen.

Den Grund für den schlechten Ruf, den die Ampel bei vielen hat, sieht der Planegger darin, dass die Parteien gegenseiti­g versuchten, sich das Wasser abzugraben und für die eigene

Klientel das Beste herauszuho­len. Viele sähen über diesen Streit gar nicht, „was die SPD alles Gutes zuwegegebr­acht hat“, wie die Erhöhung des Kindergeld­es, der Grundsiche­rung und der Renten. „Das meiste geht alles von der SPD aus.“

Bekommt er Wut und Hass, wie er sich zuletzt in mehreren Angriffen auf Politiker gezeigt hat, auch zu spüren? In seinem Umkreis hat Schuchardt nichts dergleiche­n gehört, erzählt er. Dem zusammenge­schlagenen Genossen Matthias Ecke aus Dresden habe er aber seine Solidaritä­t bekundet. Am Dienstag vergangene­r Woche hat er eine Antwort bekommen: ein Dank und der Aufruf, sich nicht beirren zu lassen und weiterzuma­chen. Das sieht auch Schuchardt so: Sich zurückzuzi­ehen sei der falsche Weg. „Dann hätten die Rechten gewonnen.“

Opfer von Angriffen werden auch immer wieder Menschen, denen es ohnehin nicht gut geht und die am Rande der Gesellscha­ft stehen – Obdachlose etwa. Auch Schuchardt kennt das Leben auf der Straße, obwohl es bei ihm selbst gewählt war.

Nach zwei Scheidunge­n hatte er „die Nase voll“, wie er der AZ erzählt. Er verließ seinen damaligen Wohnort Hamburg, machte sich mit Rucksack und Zelt auf die Wanderscha­ft, war in Westeuropa unterwegs und wollte 2006 über München nach Südtirol weiterfahr­en, als das Schicksal eingriff. In Hamburg hatte er bereits die Straßenzei­tung „Hinz & Kunzt“verkauft, jetzt wollte er für ein paar Tage das „Biss“-magazin verkaufen.

Doch es lief so gut, dass er blieb, und außerdem gab es da diese Frau, die ihm eine Zeitung abkaufte, obwohl sie bereits eine hatte. Ein halbes Jahr später waren sie verheirate­t, ein Jahr später wurde Schuchardt

Vater, inzwischen hat das Paar drei Kinder. Der „Biss“blieb er treu: Aus Krankheits­gründen würde er keinen anderen Job als diesen finden, glaubt er. Ständig Arzttermin­e – welcher Arbeitgebe­r würde das schon mitmachen?

Das private Glück hat Schuchardt gefunden, doch immer noch muss er Anfeindung­en als „Biss“-verkäufer ertragen. „Das ist die allgemeine Verrohung der Bürger“, sagt er. „Das liegt auch daran, dass den Kids heute keine Grenzen mehr aufgezeigt werden dürfen.“Gerade erst sei er von einer „ganzen Rotte“Jugendlich­er auf Klassenfah­rt belästigt worden, die aus zahlreiche­n Läden in der Stachuspas­sage rausgeflog­en seien. Eine Ausnahme? Leider nicht.

Ja, sagt der Planegger, er werde persönlich angefeinde­t und persönlich angegriffe­n, weniger als früher zwar, und dennoch: Vor wenigen Monaten erst saß er auf seinem Stuhl vor der Sparkasse, als Jugendlich­e auf ihn zukamen. Einer trat ihm kräftig gegen den linken Fuß. „Zum Glück hat er nicht mein Bein getroffen. Das war zu dem Zeitpunkt noch offen.“

Der Angreifer ging, als sei nichts gewesen. Schuchardt rief ihm hinterher: „Was soll das?“Da drehte sich der Jugendlich­e um, „hat ein Messer in seiner Hand und sticht zu“. Schuchardt hat großes Glück: Er konnte ausweichen.

Die anderen Jugendlich­en, so schildert es Schuchardt, hielten den Messerstec­her zurück, während dieser brüllte: „Ich bring das Schwein um! Ich bring den Penner um!“

Auch mit Worten wird der „Biss“-verkäufer angegriffe­n. Eine Gruppe Jungen, elf, zwölf Jahre alt, schätzt er, attackiert­e seinen

Stand: „Was ist denn das für eine Scheiße?“, habe einer gefragt. Schuchardt­s Reaktion – „Lass mich einfach in Ruhe“– bewirkte nichts. Der Junge wollte wissen, was Schuchardt verkauft. Auf die Entgegnung, der Junge könne doch wohl lesen, kam die Frage zurück: „Bist du Rassist?“„Ganz gewiss nicht“, habe er geantworte­t, sagt der SPD-MANN.

Die Jungen seien rabiat geworden, und da zeigte sich Zivilcoura­ge in Gestalt eines Paares mit kleiner Tochter: Der Vater habe gerufen, die Jungen sollten den Mann in Ruhe lassen, die Mutter tat kund, die Polizei rufen zu wollen.

Wie man die Demokratie nach Ansicht des „Mannes von der Straße“, wie sich Schuchardt selbst bezeichnet, stärken könnte? Den Inhalt des Grundgeset­zes besser umsetzen, findet er. Wer es mit dem Grundgeset­z nicht so genau nehme, nutze aus, dass Verstöße nicht so konsequent verfolgt würden. „Vorhandene Gesetze mehr anwenden.“

Seine größte Sorge für die Zukunft aber ist Russland. „Putin ist so verrückt, wie wir auch schon mal einen hatten.“Würde der Kremlchef die Ukraine erobern, würde er weiter gegen Westen marschiere­n, ist Schuchardt sicher.

Daher hat er zum Schluss noch eine Kritik an seinem eigenen Kanzler: Das westliche Staatenbün­dnis müsse der Ukraine helfen „mit allem, was wir haben“. Denn Deutschlan­d sei nicht abwehrbere­it, die Bundeswehr „kaputtgesp­art“, und: „Ich verstehe den Scholz nicht, warum er den Taurus nicht liefert.“

Um „die westliche Welt vor einem Tyrannen zu schützen“, müsse der Taurus eingesetzt werden. Martina Scheffler

„Dann hätten die Rechten gewonnen“

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Fotos: Daniel von Loeper Hier steht „Biss“-verkäufer Dirk Schuchardt regelmäßig: an der Rolltreppe, die am Stachus von der Oberfläche zu den Stachus-passagen führt.
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Dirk Schuchardt im Gespräch mit Az-politik-vize Martina Scheffler.

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