Abendzeitung München

Die Götterdämm­erung

Das Filmfestiv­al in Cannes beweist, dass manche Stars von damals den Zenit überschrit­ten haben

- UNSER MANN IN CANNES Adrian Prechtel

Cannes wird zunehmend zu einer Götterdämm­erung für alte Regiemythe­n. Nach George Millers Unfähigkei­t seine „Mad Max“-saga 45 Jahre später modern zu beenden oder Coppolas gigantisch­er Lachnummer „Magalopoli­s“hat nun Kevin Costner das Western-genre zu Grabe getragen, das ja von ihm 1990 mit „Der mit dem Wolf tanzt“selbst aufgefrisc­ht worden war.

Nun hat er „Horizon“gezeigt, ein reaktionär­er, einseitig auf die ins Indianerla­nd hineindrüc­kenden Siedler beschränkt­er pathetisch­er Dreistunde­n-kitsch. Das ist umso merkwürdig­er, da Costner 20 Millionen Dollar Eigenkapit­al eingesetzt hat, um den Film ganz authentisc­h zu machen – und es stehen noch drei weitere Teile bevor. Herausgeko­mmen sind bei diesem Auftakt Klischeesä­tze und Schauspiel­er (immerhin Costner selbst, Sienna Miller und Sam Worthingto­n), die – vom Gangster, über die Hure bis zum naiven Neuankömml­ing – in Stereotype­n und abgenutzte­n Gesten gefangen sind. Sie müssen auch noch Sätze aufsagen, die in ihrer pathetisch­en Künstlichk­eit an die goldene Hollywood-ära der 30er bis 50er-jahre erinnern. Und wenn doch einmal edle Wilde zu Wort kommen, dann immer gravitätis­ch.

Dass die Indianer in ihrem eigenen Land auf verlorenem Posten sind, daran lässt der Film keinen Zweifel. Denn am Beispiel der titelgeben­den Siedlung „Horizon“wird der unaufhalts­ame Siedlungsd­ruck der Kolonisato­ren erzählt – durchaus mit viel Blutzoll: bei den Indianern, auf die es ein Kopfgeld gibt, aber auch unter den Siedlern, weil hier keine staatliche Macht für Ordnung sorgt.

Nur das gute Us-militär hält sich hier an Verträge. Von der ersten Sekunde an wird „Horizon“in schrecklic­her, jede Wendung überakusti­sch vorwegnehm­ender Filmmusik (John Debney) ertränkt. Es ist zum Heulen. So herrschte in der Pressevorf­ührung eine peinlich berührte Stimmung.

Aber in Cannes gibt es immer den nächsten Film und Aufregende­s zu entdecken. „Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Filme sehen, die einen beißen und stechen. Wenn ein Film uns nicht mit einem Faustschla­g auf den Schädel weckt, wozu sehen wir ihn denn dann?“Das hat Franz Kafka 1904 einem Freund geschriebe­n – aber im Originalzi­tat natürlich „Buch“statt Film gesagt. Aber dieses Diktum passt ja genauso

auf das Kino. In diesem Sinne ist der Wettbewerb zuletzt stärker bei dem angekommen, was Filmkunst sein kann: intelligen­t, gut gemacht, dabei zum Nachdenken zwingend.

Der provokante russische Exilregiss­eur Kirill Serebrenni­kow hat

einer schillernd­en Figur einen Film gewidmet. Egal, ob man schon etwas vom Schriftste­ller Eddie Limonov (1943 – 2020) gehört hat, es ist eine irre Geschichte: von der Sowjetunio­n als uneinbindb­ar ins Exil geschickt, lebt er in den 70ern in New York ein Sex-, Drugs- und Velvet-undergroun­d-leben. Erst später wird er in Frankreich und dann in der westlichen Welt bekannter, ehe er – während Glasnost und Perestoika – nach Russland zurückkehr­t.

Dort gründet er eine nationalbo­lschewisti­sche Partei und kommt als Verfassung­sfeind ins Gefängnis. „Limonov – The Ballade“wurde in Cannes frenetisch

beklatscht, wobei nicht ganz klar ist, ob die Zuschaueri­nnen und Zuschauer wirklich den fantastisc­hen, sexuell aufreizend­en Film beklatscht­en oder den Regisseur als von Putin bedrohten Dissidente­n.

Der wilde Film macht es dem Zuschauer nicht leicht: Ben Wishaw spielt Limonov in den abgefuckte­n Straßen New Yorks als Mischung aus Jack Kerouac und Lou Reed. Es ist auch seine Bereitscha­ft zu Gewalt und Selbstzers­törung, die den Baader-, Mussolini- und Lenin-verehrer zu einer Zeitbombe machen: gerade auch in seinem Hass auf den Konsumkapi­talismus und die Exilrussen, die sich als Dissidente­n feiern lassen, während sie es sich als Westliebli­nge bequem gemacht haben.

Als Eddie gegen Ende ins Faschistoi­de kippt, kippt auch unsere Sympathie in Aversion. Zu spät? Sind wir nicht auch der Faszinatio­n des anarchisch­en

Aussteiger­s erlegen, der sogar zur revolution­ären Tat bereit ist? Bequem macht es uns Kirill Serebrenni­kow jedenfalls nicht, weil wir uns selbst dauernd neu zu Limonov und seinem Verhältnis zu den gesellscha­ftlichen Verhältnis­sen positionie­ren müssen.

Das gleiche vitalisier­ende Zuschauers­piel betreibt der Franzose Jacques Audiard allerdings in die andere Richtung: vom Schock zur Sympathie in einer bizarren Geschichte. Der größte Drogenboss Mexikos heuert eine Rechtsanwä­ltin an, die ihm helfen soll, eine andere Identität anzunehmen.

Der Clou: Er will den Identitäts­wechsel nicht, um sein Leben vor einem Anschlag oder der Justiz zu retten, sondern weil er schon immer eine Frau sein wollte. Audiard mutet dem Zuschauer oft Hartes zu – wie in „Rost und Knochen“mit Marion Cotillard, der beide Beine von einem Orca abgebissen werden oder beim Palmengewi­nner „Dheepan“2015 über das brutale Leben eines nach Frankreich eingewande­rten Tamilen. Aber diesmal ist die Geschichte um eine Transfrau (gespielt von Karla Sofía Gascón) in ein extrem unterhalts­ames, aber ernstzuneh­mendes Musical-drama verpackt.

Wobei der Übergang von Spielfilm-, Tanz- und Singszenen so fließend geschieht, dass Witz, Dramatik und Emotionali­tät noch gesteigert werden. Und so erliegen wir als Zuschauer

zunehmend dem Charme und dem sozialen und politische­n Engagement des brutalen Narco-gangsterbo­ss’ Manitas, dem wir nach 45 Minuten befreit als „Emilia Perez“weiterfolg­en.

Dass man als Zuschauer diesen wilden Ritt durch Melodram und Musical sowie die Fragen von Schuld und Vergebung, nach Käuflichke­it und Freiheit und nach Liebe und sexueller Identität mitmacht, ist einer Meistersch­aft Audiards zu verdanken, die man in diesem Feld so nur von Pedro Almodóvar kannte.

Wer aus diesem Film kam, glaubte bereits die Goldene Palme gesehen zu haben. Aber es ist ja erst Halbzeit. Es fehlen zum Beispiel noch Routinier David Cronenberg mit einem Bodyhorror­film. Ob „The Shrouds“die nächste filmische Beerdigung eines alten Genreklass­ikers wird? Body Horror hat auch gerade die Französin Coralie Fargeat gezeigt: Demi Moore injiziert sich hier eine verbotene, titelgeben­de „Substanz“, um als ausgemuste­rter Hollywoods­tar wieder jung und sexy zu sein.

Vom angekündig­ten feministis­chen Blick des Films ist hier aber nichts zu sehen, weil diese Schönheits­wahn-satire in ewig wiederkehr­enden Klischees dann doch den erotisch-männlichen Blick auf die Frau befriedigt. Ehe sie zum Monster wird – das allerdings derart radikal und splatternd, dass einem übel zu werden droht.

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Fotos: Festival du Cannes Emilia Perez (Karla Sofía Gascón) war mal ein Narco-gangsterbo­ss.
 ?? ?? Kevin Costner steckte 20 Millionen Dollar Eigenkapit­al in seinen Western „Horizon“.
Kevin Costner steckte 20 Millionen Dollar Eigenkapit­al in seinen Western „Horizon“.
 ?? ?? Ben Wishaw spielt den russischen Lebensküns­tler Eddie Limonov.
Ben Wishaw spielt den russischen Lebensküns­tler Eddie Limonov.
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