Schön kämpferisch
Die Frauen haben in Cannes eindeutig die interessanteren Rollen
Cannes geht entspannt in die Zielgerade zur Palmengala am Wochenende. Selbst in den abendlichen Galas gibt es wieder ein paar freie Plätze, die mit Last-minute-karten gefüllt werden. Da wurde auch ein Liebling aller Italophilen beklatscht, obwohl er mit seinem in Schönheit erstarrten Film vor allem langweilt.
Paolo Sorrentino („La grande bellezza“) ist selbst Neapolitaner - und wenn er auf seine Herkunftsstadt schaut, dann meist mit einem Postkartenblick. Es ist, also ob seine titelgebende Hauptfigur „Parthenope“sich in einer ständigen Campari-reklame oder in der italienischen „Vogue“befinden würde und manchmal auch im „Playboy“. Die junge Frau heißt nach der griechischen Nymphe, die hier mythisch gelebt haben soll. Und so soll Parthenope die Verkörperung Neapels sein: die Familie reich, der klassizistische Stadtpalast am Meer, der Bruder sensibel und schwul, so dass er sich auf Capri ins Meer stürzen wird, der ewig verliebte Jugendfreund geht – immer abgewiesen – nach Mailand.
Und sie? Sie (Celeste Dalla Porta) wird Anthropologie studieren, im Dom nächtlich Sex mit dem Kardinal haben und ansonsten ohne Wahrheit durch ihr Leben streunen. In der letzten halben Stunde erleben
wir sie dann als ältere Dame (jetzt Stefania Sandrelli). Und hier, und nur hier, gelingt Sorrentino in melancholischer, sanft lebensphilosophischer Reflexion wirkliche Emotion. Denn wen hat Parthenope in ihrem Leben wirklich geliebt? Die Stadt.
Plötzlich ziehen nächtlich ausgelassen feiernde Fußballfans die pittoreske Uferstraße entlang. Da lächelt Parthenope
zum ersten Mal berührt und echt.
Nach soviel Ersticken in Schönheit hilft als Gegengewicht „Anora“des Amerikaners Sean Baker. Und wer bei einem Film über eine 23-jährige Sexclub-arbeiterin nur Tristesse und Tragik erwartet, irrt sich. Zwar ahnt man, dass die Aschenputtel-geschichte mit dem infantilen, hübschen und mit Geld um sich werfenden
21-jährigen armenisch-russischen Oligarchensohn nicht gut gehen kann, aber es wird nicht düster. Denn im Gegensatz zu Parthenope packt Anora das Leben an, wenn auch ordinär fluchend, fauchend und wenn es sein muss auch kratzend und beißend wie eine Katze.
Der Film ist eine doppelte Milieuund Lebensstudie: einer prekären, aber lebenshungrigen jungen amerikanischen Frau und einer Oligarchenfamilie mit Wohlstandsverwahrlosung, Dekadenz und Handlangern fürs Grobe. Aber auch die sind dann eben - gegen das Klischee - doch nicht so grob, sondern menschlich. Sean Baker kommt dabei ohne jegliche Überheblichkeit aus, vor allem ohne Schwere. Denn „Anora“hat auch viel Witz, sogar Wärme und Hoffnung – zumindest für Anora.
Aber Cannes wäre nicht Cannes, wenn man nicht auch sehr Cineastisches im Programm hätte. Es ist anzunehmen, dass der Name Marcello Mastroianni (1924 - 1996) nicht mehr allen etwas sagt. Aber dieser schönste Schauspieler Italiens, von Federico Fellini mit „La dolce vita“(Goldene Palme in Cannes 1960) zum Superstar gemacht, war auch eine Zeit lang der untreue Lebensgefährte von Catherine Deneuve und hat mit ihr die Tochter Chiara. Sie ist ebenfalls Schauspielerin, und der Franzose Christophe Honoré widmet ihr und ihrem etwas verlassenem Lebensgefühl einen Film zusammen mit der dominanten Deneuve-mutter, die im Film sich selber spielt. Der Clou: eines Morgens wacht Chiara Mastroianni auf und schaut beim Blick in den Spiegel in das Gesicht ihres Vaters Marcello. Sie fühlt: Sie ist er! Sie kleidet sich ab jetzt wie er, trägt eine Perücke mit seiner Frisur, redet, geht so tänzelnd wie er, spricht wie er.
Aber diese Identitätskrise, diese Verarbeitung einer Kindheit mit einem ständig Abwesendem ist nicht wirklich tragisch, sondern auch komisch und spielt mit der Möglichkeit, ein anderer sein zu können. So ist dabei eine Hommage an das komplexe Schauspielerleben und die Freiheit, sich selbst ausprobieren zu dürfen: alles anhand einer sehr cineastischen Geschichte. Aber das passt ja zu Cannes als Weltstadt des Films jedenfalls für 12 Tage.