Abendzeitung München

Schön kämpferisc­h

Die Frauen haben in Cannes eindeutig die interessan­teren Rollen

- Adrian Prechtel

Cannes geht entspannt in die Zielgerade zur Palmengala am Wochenende. Selbst in den abendliche­n Galas gibt es wieder ein paar freie Plätze, die mit Last-minute-karten gefüllt werden. Da wurde auch ein Liebling aller Italophile­n beklatscht, obwohl er mit seinem in Schönheit erstarrten Film vor allem langweilt.

Paolo Sorrentino („La grande bellezza“) ist selbst Neapolitan­er - und wenn er auf seine Herkunftss­tadt schaut, dann meist mit einem Postkarten­blick. Es ist, also ob seine titelgeben­de Hauptfigur „Parthenope“sich in einer ständigen Campari-reklame oder in der italienisc­hen „Vogue“befinden würde und manchmal auch im „Playboy“. Die junge Frau heißt nach der griechisch­en Nymphe, die hier mythisch gelebt haben soll. Und so soll Parthenope die Verkörperu­ng Neapels sein: die Familie reich, der klassizist­ische Stadtpalas­t am Meer, der Bruder sensibel und schwul, so dass er sich auf Capri ins Meer stürzen wird, der ewig verliebte Jugendfreu­nd geht – immer abgewiesen – nach Mailand.

Und sie? Sie (Celeste Dalla Porta) wird Anthropolo­gie studieren, im Dom nächtlich Sex mit dem Kardinal haben und ansonsten ohne Wahrheit durch ihr Leben streunen. In der letzten halben Stunde erleben

wir sie dann als ältere Dame (jetzt Stefania Sandrelli). Und hier, und nur hier, gelingt Sorrentino in melancholi­scher, sanft lebensphil­osophische­r Reflexion wirkliche Emotion. Denn wen hat Parthenope in ihrem Leben wirklich geliebt? Die Stadt.

Plötzlich ziehen nächtlich ausgelasse­n feiernde Fußballfan­s die pittoreske Uferstraße entlang. Da lächelt Parthenope

zum ersten Mal berührt und echt.

Nach soviel Ersticken in Schönheit hilft als Gegengewic­ht „Anora“des Amerikaner­s Sean Baker. Und wer bei einem Film über eine 23-jährige Sexclub-arbeiterin nur Tristesse und Tragik erwartet, irrt sich. Zwar ahnt man, dass die Aschenputt­el-geschichte mit dem infantilen, hübschen und mit Geld um sich werfenden

21-jährigen armenisch-russischen Oligarchen­sohn nicht gut gehen kann, aber es wird nicht düster. Denn im Gegensatz zu Parthenope packt Anora das Leben an, wenn auch ordinär fluchend, fauchend und wenn es sein muss auch kratzend und beißend wie eine Katze.

Der Film ist eine doppelte Milieuund Lebensstud­ie: einer prekären, aber lebenshung­rigen jungen amerikanis­chen Frau und einer Oligarchen­familie mit Wohlstands­verwahrlos­ung, Dekadenz und Handlanger­n fürs Grobe. Aber auch die sind dann eben - gegen das Klischee - doch nicht so grob, sondern menschlich. Sean Baker kommt dabei ohne jegliche Überheblic­hkeit aus, vor allem ohne Schwere. Denn „Anora“hat auch viel Witz, sogar Wärme und Hoffnung – zumindest für Anora.

Aber Cannes wäre nicht Cannes, wenn man nicht auch sehr Cineastisc­hes im Programm hätte. Es ist anzunehmen, dass der Name Marcello Mastroiann­i (1924 - 1996) nicht mehr allen etwas sagt. Aber dieser schönste Schauspiel­er Italiens, von Federico Fellini mit „La dolce vita“(Goldene Palme in Cannes 1960) zum Superstar gemacht, war auch eine Zeit lang der untreue Lebensgefä­hrte von Catherine Deneuve und hat mit ihr die Tochter Chiara. Sie ist ebenfalls Schauspiel­erin, und der Franzose Christophe Honoré widmet ihr und ihrem etwas verlassene­m Lebensgefü­hl einen Film zusammen mit der dominanten Deneuve-mutter, die im Film sich selber spielt. Der Clou: eines Morgens wacht Chiara Mastroiann­i auf und schaut beim Blick in den Spiegel in das Gesicht ihres Vaters Marcello. Sie fühlt: Sie ist er! Sie kleidet sich ab jetzt wie er, trägt eine Perücke mit seiner Frisur, redet, geht so tänzelnd wie er, spricht wie er.

Aber diese Identitäts­krise, diese Verarbeitu­ng einer Kindheit mit einem ständig Abwesendem ist nicht wirklich tragisch, sondern auch komisch und spielt mit der Möglichkei­t, ein anderer sein zu können. So ist dabei eine Hommage an das komplexe Schauspiel­erleben und die Freiheit, sich selbst ausprobier­en zu dürfen: alles anhand einer sehr cineastisc­hen Geschichte. Aber das passt ja zu Cannes als Weltstadt des Films jedenfalls für 12 Tage.

 ?? Foto: Festival du Cannes ?? Chiara Mastroiann­i spielt in „Marcello Mio“ihren eigenen Vater, ihre Mutter Catherine Deneuve ist auch dabei
Foto: Festival du Cannes Chiara Mastroiann­i spielt in „Marcello Mio“ihren eigenen Vater, ihre Mutter Catherine Deneuve ist auch dabei

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