Die tätowierte Welt
Gibt es noch Fußballer, deren Körper zumindest einige Quadratzentimeter reine Haut aufweisen? Also nicht derart zutätowiert sind, dass die Kicker von der Ferne wirken, als hätten sie sich nicht ordentlich gewaschen. Der BayernAkteur Arturo Vidal schaut immer ein wenig aus, als wäre er von Kindern sogar am Hals und Oberkörper bemalt worden. Selig die Zeiten, als Balltreter ihren Charakter noch via Kopf mit auffälliger Haarpracht (Uli Hoeneß, Paul Breitner oder Günter Netzer) zum Ausdruck brachten und Tattoos Straftätern sowie Seeleuten generös überließen.
Für Feiglinge aber, die sich nicht stechen lassen wollen, hat die Welt der Tätowierung zum Glück eine Erweiterung in das Wohn-, Restaurantund Berufsumfeld erfahren. Ohne Wand-Tattoos kommt kaum noch eine Bäckerei oder ein Zahnarzt aus. Die Raufasertapete Erfurt war gestern. Und in Alpinaweiß gestrichene Zimmerfluchten sind in einer tätowierten Welt, wo es vielerorts mehr Tattoo-Shops als Bäcker und Metzger gibt, schwer erträglich.
Was das Schönste dabei ist: Modernes Wandtattoo-Design bringt Ästhetik und Poesie zusammen. Wer von seinem Zahnarztstuhl auf der Wand liest: „Schöne Zähne, schöne Seele“oder „Morgenstund hat Gold im Mund“, mag Trost in Stunden am Sinn des Lebens nagender Wurzelbehandlung finden.
Oder wenn in einer Anwaltskanzlei über einem schneeweißen Sofa in roter Schrift keck steht: „Man muss die Tatsachen kennen, bevor man sie verdrehen kann“, lockert das die Paragrafen-Tristesse auf. Der Spruch von Mark Twain befindet sich tatsächlich im Angebot eines Wandtattoo-Anbieters. Das ist doch was für Donald Trump, aber dafür müsste er sein vollgestopftes Büro erst einmal entrümpeln.
Und was wäre die richtige Lösung für Vidal, sozusagen die Fortsetzung der Hautbemalung auf der Wand? Ein Fußballer muss ja gut schlafen, also warum nicht sinnstiftende Worte über dem Bett? Auf wandtattoo.de wird für das Schlafzimmer in weißer, geschwungener Schrift auf schwarzem Grund die lateinische Sentenz „Carpe noctem“, nutze die Nacht, empfohlen. Aber diese Idee hat so ihre Tücken. Das Zitat ist nämlich eine schnöde Erfindung, ja Umkehrung des HorazZitats „Carpe diem“, also: nutze den Tag. Das mit den Tattoos, ob am Körper Vidals oder an der Wand, geht inzwischen doch zu weit.