Für die Seele
Die eigene Freiheit zurückgewinnen – was für ein Versprechen. Mit dem Verzicht auf Süßes oder Alkohol ist dies nicht zu schaffen. Die evangelische Kirche bietet einen anderen Weg
Sieben Wochen ohne Sofort“, also sieben Wochen ohne Hetze, dafür mit viel Ruhe und Pausen – dazu ruft die evangelische Kirche in ihrer diesjährigen Fastenaktion auf. Frau Breit-Keßler, Sie sind Regionalbischöfin von München und Oberbayern und die Vorsitzende im Kuratorium der bundesweiten Initiative. Sie hat aber doch gar nichts mit Fasten, mit Verzicht zu tun, ganz im Gegenteil ... Susanne Breit Keßler:
Natürlich gehört zur Fastenzeit auch der Verzicht etwa auf Alkohol, Zigaretten oder Schokolade, also auf alles, was einen im Alltag vielleicht gefangen nimmt und belastet. Fasten ist aber noch etwas ganz anderes: Fasten, das Wort kommt ja von „fastan“, das heißt festhalten, im Auge behalten. Und in der Fastenzeit wollen wir die Dimensionen menschlicher Existenz in den Blick nehmen: die Beziehung zu Gott, zu sich selbst und zum Nächsten. Wer auf diese Weise mit dem Fasten Gewohntes unterbricht, der wird wach und aufmerksam und bekommt neue Einsichten. Denn diese Form des Verzichts lässt uns lieb gewordene Verhaltensweisen erkennen, die uns das Leben oft schwerer machen, als es ist.
Ohne Sofort heißt auch, nicht gleich alle Mails zu beantworten, nicht stets erreichbar zu sein. Doch Berufstätige werden sich fragen, ob diese Aktion mit ihrem Job zu vereinbaren ist? Breit Keßler:
Natürlich kann man nicht alle Aufgaben aufschieben. Das ist ganz klar. Jeder muss selbst entscheiden, wann erledige ich was. Aber wir sind doch Getriebene unserer elektronischen Geräte. Und so etwas ist einfach nicht gesund.
Geben Sie doch mal bitte Beispiele, wie die Aktion im Alltag umzusetzen ist.
Breit Keßler: Wenn man etwa am Morgen aufsteht, dann muss der erste Griff nicht nach dem Handy oder Tablet sein. Man kann sich erst mal einen schönen guten Morgen wünschen, zusammen in der Familie oder mit dem Partner frühstücken, sich erkundigen, wie der andere, die anderen ihren Tag planen. Und wenn ich alleine bin, denke ich in aller Ruhe darüber nach, was ich heute vorhabe. Am Abend könnte es so aussehen, dass man den Tag nicht so einfach abschließt und schon die Termine des nächsten Tages ins Visier nimmt. Vielmehr sollte man sich hinsetzen und fragen: Was war denn heute schön? Was war gelungen? Was hat mir wehgetan? Sich Zeit nehmen für das eigene Erleben und Empfinden ist etwas ganz, ganz Wichtiges, denn dadurch wird Leben dichter und länger.
Nun erlebt das Thema Entschleunigung ja einen richtigen Boom. Es werden vielerorts Kurse angeboten, es gibt unzählige Fachbücher dazu. Möchte die evangelische Kirche jetzt auf diesen Zug auch noch aufspringen? Breit Keßler:
Nein, so ist es nicht. Unsere Fastenaktion wächst von Jahr zu Jahr. Waren es vor gut drei Jahrzehnten, als die Aktion begründet wurde, mehrere tausend, so machen mittlerweile zwei bis drei Millionen Menschen mit. Und die Leute spüren, es bringt mir etwas.
Was bringt mir die Aktion konkret?
Breit Keßler:
In diesem Jahr ist es Ruhe und Besinnung, eine gewisse Entschleunigung, ein Nachdenken über das, was ich tue. Es bedeutet ja nicht, dass ab sofort jeder meditativ auf seinem Sessel sitzen und nichts mehr unternehmen soll. Vielmehr geht es um die Überlegung: Wo bin ich zu schnell? Wo lasse ich mich hetzen? Wo ist es aber auch toll, dass ich temperamentvoll bin und aus mir heraus gehe? Wäre es nicht gut, in Gesprächen mal innezuhalten, dem anderen nicht sofort ins Wort zu fallen? Und muss ich bei allem und jedem meinen Kommentar abgeben? Wenn man sich anschaut, wie schnell im Internet ein Shitstorm entsteht, wie schnell zu irgendwelchen Fake News noch ein Schwachsinn dazu gesetzt wird, dann ist es höchste Zeit, zu sagen: Augenblick mal, jetzt schaue ich erst einmal, ob das alles stimmt, und überlege mir, ob und was ich dazu sagen will.
Aber ist der Aufruf, zu entschleunigen, eigentlich auch biblisch hinterlegt? Breit Keßler:
Ja, ganz stark. Wir haben nur leider vergessen, die biblischen Geschichten anzuschauen, um zu sehen, dass Achtsamkeit und Gelassenheit unser Ureigenstes ist. Denken Sie an Jesus. Wie oft heißt es, er zog sich zurück? Er zieht sich zurück an den See, auf den Berg. Um zu sich zu kommen, zu beten. Dann wendet er sich wieder den Menschen zu, kümmert sich um sie, hilft ihnen, heilt sie. Doch immer wieder Rückzug und Besinnung – ohne das geht es nicht. Das ist urchristlich.
Was ist das speziell Evangelische?
Breit Keßler:
Für uns ist der Begriff der Freiheit ein ganz entscheidender. Die eigene Entscheidungs- und Glaubensfreiheit. Und für mich ist Fasten immer ein Rendezvous mit der Freiheit. Denn ich merke: Wo hänge ich fest? Wo enge ich mich selbst ein? Wo treibe ich mich selbst an, wo bin ich also
mein eigewirklich ner Sklaventreiber? Wo gewinne ich neue Freiheit? Denn ich spüre doch, wenn ich etwa das Smartphone, das Tablet öfter weglege, gewinne ich Freiheit für mich und auch für andere. Dieses starke Streben nach Freiheit ist, so denke ich, etwas typisch Evangelisches. Es ist aber auch – und da sind wir uns mit den Katholiken völlig einig – wichtig, Gewohnheiten zu hinterfragen, die einem schaden.
Sie sagen, der Wunsch nach Rückzug ist urchristlich. Viele Menschen verspüren ihn. Dennoch versuchen viele diese Sehnsüchte auf anderen Wegen zu befriedigen, nicht bei den Kirchen. Breit Keßler: Wir unterliegen hier wie allen großen, alteingesessenen Institutionen einer generellen Kritik. Man mag mit den traditionellen Einrichtungen nicht so viel zu tun zu haben. Aber wir sind mit unserer Aktion davon nicht betroffen. Sie wird ja, wie gesagt, seit vielen Jahren stärker. Und es sind natürlich nicht nur Menschen, die der evangelischen Kirche nahestehen. Es machen ganz unterschiedliche Menschen mit. Auch sind die Zuschauerzahlen der Fernsehgottesdienste für unsere Aktion immer eindrucksvoll. Ich denke, wir haben die missionarische Aufgabe, unseren Zeitgenossen wieder zu erzählen, wie großartig der christliche Glaube ist – und das funktioniert.
Soll ich also auf bestimmte Lebens- und Genussmittel nicht mehr verzichten? Breit Keßler:
Also mit dem Sollen und Müssen habe ich es nicht so sehr. Wichtig ist mir, sich in der Fastenzeit selbst in den Blick zu nehmen. Viele Leute haben ernährungsmäßig gar keine Schwierigkeiten, sie rauchen nicht, trinken nicht zu viel Alkohol. Wer allerdings glaubt, es tut ihm nicht gut, jeden Tag beispielsweise eine Tüte Gummibärchen wegzuputzen, der kann darauf mal verzichten. Wir mit unserer Aktion wollen aber tiefer gehen: Sie geht ans Verhalten, ans Denken, ans Empfinden, an die Mentalität. Das ist tiefgründiger und tiefsinniger, als auf etwas zu verzichten, was man später wieder tut. Es geht um einen grundlegenden Sinneswandel, der anhalten soll.
2016 war das Motto: „Großes Herz – sieben Wochen ohne Enge“. Was hat sich nachhaltig bei Ihnen verändert? Breit Keßler:
Von dieser Aktion habe ich wirklich sehr viel mitgenommen. Ich höre zum Beispiel seitdem auf meinen Herzschlag. Wann schlägt mein Herz ruhig und gelassen? Wann verursacht es einen Trommelwirbel und warum? Und vor allem: Wie kann ich mein Herz weiter machen für andere? Das Mitfreuen mit anderen ist ganz wesentlich. Denn damit wird auch mein Leben glücklicher. Gelernt habe ich auch, welch eine große Rolle das Verzeihen und Vergeben spielt. Ich habe erkannt, wie sehr ich selbst darauf angewiesen bin, dass andere mir verzeihen. Das alles hat meinen Horizont sehr erweitert. Durch eine andere Geisteshaltung erlebt man übrigens auch seinen Körper anders, freier, intensiver. Es ist interessant, wie stark Geist, Seele und Leib zusammenhängen.
Wann finden Sie das Thema für 2018?
Breit Keßler: Nächste Woche setzen wir uns zusammen, und dann steht das nächste Thema fest.
Wohin geht der Trend? Breit Keßler: Das ist komplett offen. Interview: Daniela Hungbaur