Ein Frühling ohne Gezwitscher?
Innerhalb von 20 Jahren verschwand mehr als die Hälfte aller Vögel von den Feldern Europas. Umweltschützer schlagen Alarm – und benennen Schuldige
Wenn Andreas von Lindeiner über bedrohte Vögel spricht, erinnert er sich sofort an einen Vorfall: Er erhielt einen Anruf aus Bayern, in dem ihn ein Tierfreund fragte, wie er das allerletzte Feldlerchen-Gelege in seinem Landkreis schützen kann. Er war so besorgt, dass er fragte, ob er einen Zaun darum errichten dürfe. Von Lindeiner ist Artenschutzreferent beim Landesbund für Vogelschutz (LBV). Er weiß, wie schlecht es um viele Vogelarten in Deutschland steht. Aber auch über die Grenzen hinaus verschwinden immer mehr Vögel aus der Landschaft.
Nach Zahlen der Bundesregierung, die sie auf Anfrage der Grünen in einem Bericht veröffentlichte, nahm die Zahl der Brutpaare in den landwirtschaftlichen Gebieten europaweit von 1990 bis 2013 um 300 Millionen ab, das entspricht 57 Prozent. Die Untersuchung stützt sich auf die Beobachtung von acht ver- schiedenen Vogelarten, die das landwirtschaftliche Bild ökologisch entscheidend prägen. Daher finden Arten wie Krähen, Stare oder Amseln keine Beachtung im Bericht.
In Deutschland verschwinden vor allem Tiere, die früher häufig auf den Feldern vorkamen. So war das Braunkehlchen vor einigen Jahrzehnten noch weit verbreitet. Im Zeitraum zwischen 1990 und 2013 verschwand allerdings mehr als die Hälfte der Tiere – um 63 Prozent sank der Umfang der Population. Auch andere Arten sind massiv bedroht, etwa die Kiebitze, deren Bestand im gleichen Zeitraum um 80 Prozent zurückging. Zeitgleich verschwanden 35 Prozent der Feldlerchen. Schlecht sieht es auch für die Rebhühner aus. Deren Anzahl ging von 1990 bis 2015 um 84 Prozent zurück.
Gerade die sogenannten Agrarvögel sind akut bedroht. Zu diesen gehört auch die Feldlerche, wegen der von Lindeiner den besorgten Anruf bekommen hatte. „Tiere wie die Feldlerche leiden unter den Monokulturen in der Landwirtschaft. Wie viele andere Arten kommen die Tiere mit der intensiven Agrarwirtschaft nicht klar“, sagt er. Von Lindeiner betont, dass es ihm dabei nicht darum gehe, ein „Bauern-Bashing“zu betreiben, also unnötig auf Bauern einzuprügeln. Er sieht die Politik auf der EU-Ebene in der Verantwortung. Dieser Meinung schließt sich der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) an. „Der Nabu fordert eine grundlegende Reform der gemeinsamen Agrarpolitik“, sagt Vizepräsident Thomas Tennhardt. Dafür müsse sich die Bundesregierung in Brüssel einsetzen.
Vögel leiden nicht nur direkt unter der intensiven Landwirtschaft. Laut dem Bericht der Bundesregierung ist die Anzahl der Insekten rapide zurückgegangen, bei einigen Arten um 90 Prozent. Der Grund: Landwirte setzen Pflanzenschutzmittel und Giftstoffe ein, die den Insekten schaden. Dadurch fehlen den Vögeln wichtige Futtertiere. Nicht nur insektenfressende Vögel sind auf die Sechsfüßer angewiesen. Auch Vegetarier wie der Spatz füttern ihren Nachwuchs nach dem Schlüpfen mit Insekten, bevor die Jungtiere auf einen Körner-Speiseplan umsteigen. Gleichzeitig raube die intensive Landwirtschaft dem Bericht der Bundesregierung zufolge den Vögeln mögliche Brutplätze.
Doch wie entwickelt sich die Zahl der Vögel weiter? Von Lindeiner trifft eine düstere Prognose: Wenn sich die Rahmenbedingungen in der Landwirtschaft nicht ändern, werden die bedrohten Arten irgendwann aussterben. Von Lindeiner schätzt allerdings, dass viele Menschen diesen Verlust kaum mitbekommen würden: „Ein großer Teil der Bevölkerung erkennt nicht einmal eine Feldlerche oder ihr Gezwitscher, obwohl die Tiere früher zum Landschaftsbild gehörten.“Und wer weiß heute noch, wie ein Brauchkehlchen oder ein Kiebitz aussieht?