May, oh May
Großbritanniens Premierministerin ließ Neuwahlen ansetzen, um vor den Brexit-Verhandlungen ihre Macht zu stärken. Nun führt sie aber einen unglücklichen Wahlkampf, die Umfragewerte sinken. Und die Heckenschützen in ihrer Partei lauern schon
Es kommt zuweilen vor, dass sich Theresa May auf die Suche nach echten Menschen begibt. Sie zieht dann los, läuft Straße für Straße ab und klopft an dutzende Türen, um die Menschen dahinter zu überzeugen, bei der Parlamentswahl am kommenden Donnerstag für sie und ihre „starke und stabile Führung“zu stimmen. Auf dem blauen Bus, mit dem die Premierministerin über die Insel tourt, wie auch auf den Flugblättern und Postern ist ein scharfes Auge nötig, um noch irgendwo „konservativ“oder den Parteinamen zu entdecken. Es geht um die Person Theresa May und ihr Team, ein weitgehend namenloses. Selbst Kabinettsmitglieder sind in den Hintergrund verwiesen. Die Botschaft lautet: Die 60-Jährige ist die starke Führungsfigur in ungewissen Brexit-Zeiten gegen den Schwächling der Opposition von Labour, Jeremy Corbyn, der das Land ins Chaos zu stürzen droht.
Von Umfragen beflügelt verschlug es sie sogar in klassische Labour-Gebiete und nach Schottland, wo sich die Tories jahrelang kaum hingetraut haben aus Angst, mit dem Dudelsack wieder verjagt zu werden. Doch Theresa May wendet sich seit ihrer Amtsübernahme im Juli 2016 auch an die Arbeiterklasse. Sie wolle ein Land schaffen, das „für alle funktioniert“, betont sie. Alles schien für sie zu laufen. Schien.
Manchmal kommt es bei ihren Streifzügen durch das Land vor, dass keiner auf ihr Klingeln reagiert oder ihr schon beim Nähertreten ein „Nein, danke!“entgegengefeuert wird. Solche Momente sind peinlich für die Regierungschefin, wird sie doch stets von Fernsehkameras begleitet. Wirklich unangenehm wird es aber, wenn sie tatsächlich herausgefordert wird. Wenn echte Menschen sie öffentlich mit echten Sorgen konfrontieren oder statt bedeutungsleeren Slogans Inhalte fordern, entstehen regelmäßig seltsame Situationen. May wirkt nicht nur bei solchen Auftritten, als fühle sie sich unwohl in ihrer Haut. „Schwach und schwankend“, beschrieben sie etliche Zuschauer nach einer TVDebatte am Montagabend. Beim Beobachter setzt ein Phänomen ein, für das das Englische trotz seines reichen Wortschatzes bedauerlicherweise keinen Namen hat. Die Deutschen besitzen die schöne Bezeichnung des Fremdschämens.
Es ist ein Grund, warum im Zirkel der Tories Nervosität herrscht, teilweise sogar Panik. Denn der Vorsprung schmilzt dahin. Umfragen deuten an, dass May sogar Sitze verlieren könnte. Hinter den dicken Mauern des Parlaments wird bereits gemunkelt, ob die Chefin dann noch zu halten ist. „Es ist erstaunlich, dass die Tories dachten, sie könnten die gesamte Kampagne um Theresa May aufbauen – eine völlig durchschnittliche Politikerin“, sagt ein ehemaliger Regierungsberater. Hat sich May grandios verspekuliert?
Am Mittwochabend traten die Chefs aller Parteien im Fernsehen auf. Nur eine fehlte: Theresa May. Sie hatte dafür eine eigenartige Erklärung: Anders als Corbyn konzentriere sie sich lieber auf die bevorstehenden Brexit-Verhandlungen. Ausgerechnet. War sie es doch, die überraschend und entgegen früherer Beteuerungen Neuwahlen angesetzt hat, weil sie der Versuchung, einen historischen Sieg einzufahren, nicht widerstehen konnte. Im Netz entlud sich ein Sturm der Entrüstung über „ihre Feigheit und Arroganz“, sich nicht ihren politischen Rivalen zu stellen. „Wenn Corbyn nicht Labour-Chef wäre, würden die Tories definitiv verlieren – wir hätten es verdient“, schimpft ein konservativer Kandidat hinter vorgehaltener Hand.
Mays Alleingänge, bislang von ihrer Partei stillschweigend hingenommen, könnten ihr nun auf die Füße fallen. So zog sie mehrmals innerhalb kürzester Zeit Entscheidungen zurück oder änderte ihre Meinung in zentralen Fragen, nachdem sie von der Presse oder konservativen Hinterbänklern dafür gescholten wurde. „Mrs U-Turn“wird sie bereits genannt in Anlehnung an ihre vielen Kehrtwenden, die sie in den letzten Wochen vollführt hat.
Während Meinungsforscher sie noch im April mit deutlich mehr als 20 Prozentpunkten vor Labour sahen, schwindet der Vorsprung der Tories täglich. Dass die Konservativen wirklich verlieren könnten, so weit würde trotzdem kaum jemand gehen. May genießt noch das Vertrauen der Briten beim bedeutungs- Thema im Königreich, dem Brexit. Und sie liefert ganz im Sinne der Brexiteers, hat zudem mit der rechtskonservativen Boulevardpresse mächtige Unterstützer. Sie darf getrost als Herzdame der Daily Mail tituliert werden. Jene, die es weniger gut mit ihr meinen, nennen sie deren „Marionette“.
Im Parlamentsviertel, wo alte Seilschaften aus Eliteschulzeiten viel gelten und Entscheidungen gerne abends im Pub getroffen werden, heißt es, sie habe keine wirklichen Freunde. Sie wird respektiert statt geliebt. Das scheint ihr zu genügen. Falls sie doch einmal den Menschen May durchschimmern lässt und etwa, wie kürzlich, aus Wahlkampfgründen mit ihrem Mann auf dem Sofa einer Frühstückssendung landet, bleibt sie beim Banalen: Er bringt den Müll raus, beide lieben das Wandern, sie sammelt Kochbücher und hat ein Faible für Designerschuhe. Solche Dinge. Mit ihrer Jugendliebe Philip, einem Banker, ist sie seit 37 Jahren verheiratet. Heute leben die beiden in Sonning in ihrem Wahlkreis Maidenhead in der Grafschaft Berkshire, eine gute Autostunde von London entfernt.
Der englische Dichter James Sadler beschrieb Sonning als ein kleines Dorf, das „schöner als der Rest“sei, von Kunst veredelt, von der Natur gesegnet. Seit diesem Loblied im 19. Jahrhundert hat sich an der Idylle kaum etwas verändert. Es ist das Bilderbuch-England in Reinform. Historische Häuser mit alten Gemäuern, wo am Nachmittag noch Teekränzchen abgehalten werden und sich auf der Straße alle grüßen. Wo der Rasen auf Perfektion getrimmt und sonntags die Kirche volvollsten ler ist als im restlichen Land. Alle kennen hier Theresa, die Tochter eines anglikanischen Vikars, die zwar seltener, aber trotzdem regelmäßig in Begleitung ihrer Bodyguards die Sonntagsmesse um 8 Uhr besucht. „Sie ist reizend“, sagt Rentnerin Barbara, die ihr ganzes Leben hier verbracht hat.
Ihre Freundinnen nicken eifrig und erzählen sich noch einmal die Anekdote über die Spürhunde von Mays Sicherheitspersonal, die mal die Hostien verputzt haben. Der Vorfall ist einige Jahre her, seitdem ist nicht mehr viel passiert in Sonning. Einige Kilometer weiter in der 70 000 Einwohner großen Stadt Maidenhead genießt May ebenfalls Popularität. „Ich bin gegen den Brexit, aber für Theresa May“, sagt der 35-jährige Anup Nair. Es herrsche so viel Ungewissheit, doch die Premierministerin würde damit gut umgehen und sei „die richtige Person, um uns aus Europa zu führen“. Der Brexit ist ihr Thema.
Geoffrey Hill lädt zum Gespräch in ein Restaurant mit Blick über die Themse. Der 58-Jährige trägt ein hellblaues Leinen-Jackett, lila Hemd, schwarze Lederschuhe sowie größten Stolz über die lokale Abgeordnete zur Schau. Er ist vor Ort Vorsitzender der Konservativen, könnte aber auch als Chef des Theresa-May-Fanclubs fungieren. „Sie ist eine bemerkenswerte Frau“, sagt er, und seine Worte klingen voller Ehrfurcht. Noch immer komme die Regierungschefin so oft wie möglich zu Veranstaltungen, eröffne Büchereien und halte Bürgersprechstunden ab, wohin jeder mit seinen Sorgen gehen und ihren Rat einholen könne. „Sie ist sehr geerdet“, sagt Hill und lobt „ihren unglaublichen Arbeitsethos, ihre Leidenschaft und ihren Enthusiasmus für die Gemeinde“. Seit 20 Jahren vertritt May den Wahlkreis. Sie habe „klein angefangen“, schon damals hätten Kollegen prophezeit: „Diese Frau wird eines Tages Premierministerin sein.“
Sechs Jahre lang besetzte May den Posten der Innenministerin, der in Großbritannien für gewöhnlich als klassischer Schleudersitz herhalten muss. Doch May zeigte sich zäh, hat sich nicht nur mit der Polizei und Parteikollegen angelegt, sondern profilierte sich vor allem in der Einwanderungspolitik als Verfechterin einer harten Linie. Um die Einwanderung kontrollieren zu können, ist sie bereit, den freien Zugang zum gemeinsamen europäischen Binnenmarkt zu opfern. Oder gar ohne Abkommen den Verhandlungstisch in Brüssel zu verlassen. Es dürfte unter anderem diese Haltung sein, die ihr Akzeptanz unter den Brexiteers verschafft hat.
„Sie wirkt freundlich, aber in gewisser Weise steht sie Marine Le Pen näher als jeder andere britische Politiker“, sagt Simon Hix, Politikwissenschaftler an der renommierten London School of Economics (LSE). Er nennt May „eine altmodische Politikerin“, deren Vision für Großbritannien fast an die Zeit vor Tony Blair oder sogar vor Margret Thatcher anknüpfe. Die Regierungschefin stamme aus jener Generation, die sich an ein vorwiegend weißes und christlicheres Land erinnert, das sozial konservativer war und ein engeres Gemeinwesen pflegte. „Das ist das Großbritannien, das sie wiederherstellen will.“
Andere Kritiker finden, sie wirke wie ein Roboter, wiederhole dieselben
Es herrscht Nervosität, teilweise sogar Panik Den Mangel an Charisma gleicht sie durch Fleiß aus
Phrasen immer und immer wieder. Mit dem Start des Wahlkampfs löste „starke und stabile Führung“den Dauerslogan „Brexit bedeutet Brexit“ab. May zieht das mit bewundernswerter Hartnäckigkeit durch. Den Mangel an Charisma versucht sie durch Fleiß, ihre resolute Art, Mut und Detailgenauigkeit auszugleichen. Sie sei eine „bloody difficult woman“, eine verdammt schwierige Frau, schimpfte vor Jahren das Tory-Urgestein Ken Clarke.
Heute ist Theresa May stolz auf die Bezeichnung, nutzt sie sogar selbst, wenn sie erklärt, wie sie gegenüber der EU bei den Austrittsverhandlungen auftreten will. Wie sie wirklich tickt, wissen nur die wenigsten. May traut lediglich ihrem engsten Mitarbeiterstab, dem aber blind. Gleichzeitig versucht sie, so heißt es rund ums Parlament, alles und jeden zu kontrollieren – zum Leidwesen vieler Parteikollegen.
Die Lokalzeitung von Maidenhead hat kürzlich eine Kopie ihres Lebenslaufs veröffentlicht, den sie einst bei den Tories einreichte. Unter „besonderen Interessen“gab sie an: Kommunalpolitik, Wohnungswesen und – Europa. Ausgerechnet. Es soll 20 Jahre später über ihre politische Zukunft entscheiden.