Ein Zug ins Unbekannte
Zum Sudetendeutschen Tag in Augsburg erinnert sich Gertrud Haschek an den erzwungenen Abschied aus Freudenthal: an Plünderungen, Ungerechtigkeit und den Neustart
Manchmal setzt sie sich noch an den alten Computer und tippt solche Verse in die Tastatur: „Ich fühle mich, als wär ich daheim/Und bin doch weit weg – und schlaf endlich ein./Ich träum von der Heimat, die ich verloren/Von Messendorf, meinem Dörflein, wo ich geboren“. Es war ihr Sohn, der ihr den PC geschenkt hatte, kurz bevor er vor zehn Jahren starb. Seitdem ist ihr das Gerät im Wohnzimmer Erinnerungsstück im doppelten Sinne.
Bald 70 Jahre lebt Gertrud Haschek in Neusäß. Es gefällt ihr hier, drei Kinder und Enkel wohnen in der Nähe. Sie lebt nach wie vor in ihrem mit eigenen Händen erbauten Haus, das mit den Jahren ihr Lebensund Gedächtnisraum geworden ist. Und im Ort kennt man sie. Die Heimat aber, an die sie sich mit ihren Gedichten heranschreibt, die liegt in Freudenthal, Tschechien – im ehemaligen Sudetenland.
1945, sie war gerade 16 Jahre alt, begannen die Tschechen mit der Vertreibung, bei der rund drei Millionen Menschen ihre Heimat verloren. Schon zuvor, so erzählt Haschek, seien die russischen Soldaten ins Dorf einmarschiert und hatten den Gastwirt erschossen. Dann seien die Häuser geplündert worden. „Nachts haben wir uns oft im Kornfeld versteckt. Wenn wir gefunden wurden, dann habe ich verrückt gespielt. Da hatten die Angst vor mir und haben mich in Ruhe gelassen.“Tagsüber suchte man Arbeit oder bettelte bei den Bauern. So sah ihr Alltag für über ein Jahr aus.
1946 wurden Gertrud Haschek und ihre Familie in einen Zug gesetzt; man siedelte sie als eine der letzten Deutschen in ihrem Dorf aus. „Wir wussten nicht, wo sie uns hinbrachten.“Gertrud Haschek nippt an ihrem Wasserglas, schweigt einen Moment, dann ballt sie unvermittelt die Faust und schlägt auf den Esstisch. „Und die Tschechen haben sich in unseren Dörfern ins gemachte Nest gesetzt.“
Sie sagt das nicht in Wut auf die Menschen, sondern der Ungerechtigkeit wegen, die ihr und ihrer Familie widerfuhr. Nach mehreren Tagen im Viehtransporter und Stationen in Furth im Wald, Nürnberg und Meitingen wurde die Familie schließlich in Wortelstetten (Buttenwiesen) vor dem Friedhof ausge- setzt. Da habe sich dann die Großmutter umgesehen und nicht ohne Zynismus über die Grabsteine hinweg gesungen: „Ja, ja, da lässt sich’s gut sein, da gehören wir rein.“
Der Empfang, der den Sudetendeutschen hier gemacht wurde, vermittelte Gertrud Haschek schnell die Bitterkeit, die im Gesang der Großmutter mitschwang. Als Rucksackdeutsche seien sie beschimpft worden, aufnehmen wollte sie kaum jemand, sagt sie. So lebte die Familie die ersten Jahre in einem Zimmer mit zwei Betten und einem Tisch. Nur langsam gelang es der heute 87-Jährigen, sich in Augsburg eine Existenz aufzubauen. „Bei MAN habe ich die nach dem Krieg verrosteten Maschinen geputzt.
Das war so anstrengend, dass ich das nur für ein paar Monate aushielt.“Dann aber hatte sie Glück, fand eine Festanstellung in einer Buchbinderei und kurz darauf ihren Ehemann, mit dem sie schließlich das Haus baute, in dem sie bis heute lebt. Aber „nachts im Traum, bin ich oft noch dort“, sagt sie und lächelt.
Von Schicksalen wie diesem können in Augsburg heute noch 30000 Sudetendeutsche erzählen. Insgesamt, so Hildegard Schuster von der Sudetendeutschen Landsmannschaft, kamen 1945/46 rund 185000Menschen aus der Tschechoslowakei hierher. Sie wurden dann auf andere Orte verteilt. Rechnet man die Nachkommen hinzu, haben bis zu 20 Prozent der rund 300000 Augsburger sudetendeutsche Wurzeln, sagt Dr. Ortfried Kotzian, der 2014 mit dem Großen Sudetendeutschen Kulturpreis ausgezeichnet wurde.
Bis Sonntag findet auf der Augsburger Messe der 68. Sudetendeutsche Tag statt. Zu Gast werden unter anderem Ministerpräsident Horst Seehofer, der Sprecher der Sudetendeutschen, Bernd Posselt, und der stellvertretende tschechische Premierminister Pavel Belobrádek sein.
Es gehe an diesem Tag um die Fortsetzung des Annäherungsprozesses zwischen Tschechien und den Heimatvertriebenen mit dem Versuch, „in einer neuen Partnerschaft das Herz Europas wieder so zu gestalten, das die Völker friedlich zusammenleben und die Unrechtsfolgen der Vergangenheit überwinden können“, betont Bernd Posselt.