Der 24 Stunden Bürgermeister
Rund um die Uhr für die Bürger da zu sein, das sagt sich so einfach. Stefan Bosse, Stadtoberhaupt von Kaufbeuren, hat es mal getestet. Von Freitag um sechs bis Samstag um sechs. Ohne Pause, ohne Schlafen. Aber wer bitte will mitten in der Nacht über Polit
Dieser Mann erinnert an den berühmten Duracell-Hasen. Nur dass er nicht trommelt und trommelt und trommelt, sondern redet und erklärt, redet und erklärt, redet und erklärt. Und das geschlagene 24 Stunden am Stück. Ohne Pause, ohne Duschen, ohne Schlafen. Von Freitag sechs Uhr morgens bis Samstag sechs Uhr morgens ist der Kaufbeurer Oberbürgermeister Stefan Bosse in einer Art mobilen Bürgersprechstunde unterwegs, plaudert bei 41 Terminen mit dutzenden Frauen, Männern, Kindern. Mit Kaufbeurern, Zugereisten, Flüchtlingen. Mit alleinerziehenden Vätern, geburtstagsfeiernden Postbeamten, Vereinsmeiern, Kritikern, Menschen, die in Kürze auswandern werden, Kulturschaffenden, Tagesmüttern. Diese 24-Stunden-Tour ist eine Reise ins Innenleben einer Stadt in Bayerisch-Schwaben.
Zwölfeinhalb Jahre ist der CSUMann, der sich wegen seines gewerkschaftlich engagierten Vaters genauso gut eine politische Heimat in der SPD hätte vorstellen können, nun schon Boss in der 45000-Einwohner-Stadt Kaufbeuren. Früher Polizeibeamter, dann im Innenministerium tätig, zuletzt Dozent an einer Fachhochschule für öffentliche Verwaltung. 2004 warf er erfolgreich den Hut in den politischen Ring seiner Geburts- und Heimatstadt. 2008 holte er beeindruckende 85 Prozent bei seiner Wiederwahl – ein Wert, der dann 2014 auf etwas über 57 Prozent zurückging. Das lag weniger an profilierten Gegenkandidaten als vielmehr an Themen wie dem Neubau des Eisstadions für den Zweitligisten ESV Kaufbeuren, der die Bürger in Pro und Contra spaltete. Und dass die Stadt seit Jahren weniger vom wirtschaftlichen Aufschwung profitiert als andere Kommunen, lastete und lastet noch immer mancher Bosse an.
Persönlich mögen tut den 52-Jährigen aber fast jeder. Auch etliche, die seinerzeit im Streit um das Eisstadion heftige Geschütze auffuhren, sind dem OB bis heute im freundschaftlichen Du verbunden. Wenn es zwei gibt in Kaufbeuren, die so gar nicht miteinander können, sind das Bosse und sein Stadtratskollege Bernhard Pohl, der für die Freien Wähler im Landtag sitzt.
Gebetsmühlenartig wiederholt Stefan Bosse zum Auftakt seiner Marathon-Sprechstunde gegenüber Zeitungs-, Rundfunk- und TV-Reportern, dass es ihm mit dieser Aktion nicht um Eigen-PR gehe, sondern um den direkten Draht zu Bürgern, die ansonsten nicht so viel mit Kommunalpolitik am Hut haben. Entstanden sei die Idee, als ihn ein Mann gefragt habe, ob er nicht eine Bürgersprechstunde für Schichtarbeiter anbieten könne. „Warum das nicht ausweiten, warum nicht mal vielen Leuten die Gelegenheit geben, ihrem Bürgermeister morgens um sechs, zum Abendessen oder um Mitternacht die Meinung zu sagen?“, sagt Bosse. 50 Anmeldungen gingen ein, die zu 41 Terminen gebündelt wurden. Alle Interessenten kommen also zum Zug.
Termine, die für Personen stehen, für Positives wie Problematisches. Manfred Mühlbauer zum Beispiel. Dem pensionierten Postbeamten wurde der Bosse-Abstecher zu seinem Geburtstag geschenkt, Tochter Simone hatte sich heimlich für ihn beworben. 63 wird er. Im einfach eingerichteten Wohnzimmer mit der großen Couchgarnitur gießt Ehefrau Maria Kaffee ein und türmt Kuchen auf. Wie ohnehin auf der Tour zu keinem Zeitpunkt Gefahr besteht, in Unterzucker zu geraten. Kaum ein Halt ohne Essensangebot. Das Geburtstagskind holt für den OB stolz die Ehrenurkunde von der Schützengesellschaft für zehnjährige Mitgliedschaft von der Wand. Und die 22-jährige Simone hat noch eine Bitte: Ob der OB sich vielleicht für eine Wohnung für sie und ihr 17 Monate altes Baby einsetzen könne? Bosse macht keine Versprechungen, er bittet den Mitarbeiter der Stadtverwaltung, der für diesen Tag als Fahrer und Schreibkraft zweckentfremdet wurde, sich das Ganze zu notieren.
Während der gesamten 24 Stunden verspricht Bosse niemandem einfach das Blaue vom Himmel, nur um schnell zu punkten. „Politiker müssen ehrlich sein, zu ihrer Überzeugung stehen, auch offen ansprechen, dass sie in manchen Fällen einfach nichts machen können“, sagt er. Bei keinem einzigen Gespräch wird ihm das jemand übel nehmen. „So habe ich das noch gar nie gesehen“, ist einer der meistgehörten Sätze. „So habe ich das noch gar nie gesehen“, sagt beispielsweise das aus München hergezogene Ehepaar auf der Terrasse der schmucken Eigentumswohnung, als Bosse ihm erklärt, dass das geforderte Zirkusverbot gar nichts brächte, weil die Zirkustiere dadurch nicht gerettet, sondern im Gegenteil zur Schlachtbank gebracht werden müssten. „So haben wir das noch gar nie gesehen“, sagen auch Jutta und Marek Rollnik, denen der OB das Wie und Warum einer Verkehrsführung in ihrer Straße erklärt. Lang muss es die beiden Rentner ohnehin nicht mehr interessieren, in einem Jahr wandern sie nach Spanien aus. Bei der TV-Dokusoap „Goodbye Deutschland “auf Vox haben die beiden sich auch schon beworben. Und: „So haben wir das noch gar nie gesehen“, sagen die Frauen im Esszimmer des gehobenen Haushalts, denen Bosse geduldig erklärt, dass die Stadt sehr wohl in Kultur investiere und eben nicht nur in den Sport.
Zwischen 20 und 30 Minuten hat der Mann im Schnitt Zeit, sich die Anliegen anzuhören. Weil er ebenso konzentriert wie ehrlich interessiert zuhört, sind seine Gesprächspartner fast allesamt zufrieden. Wenn noch was offenbleibt, bietet er einen zusätzlichen Termin an, den die meisten aber ablehnen: Danke, passt schon. Mittags wird die regionale Wirtschaftsmesse Mir eröffnet, abends die Einweihung des neuen Feuerwehrmuseums gefeiert. Dann stehen Gespräche mit Betreuern und Flüchtlingen auf dem Programm. Besonders rührt Bosse dabei das Schicksal der jungen Somalierin Hibaq Ahma Abdi, die mit ihrem einjährigen Sohn nach Deutschland kam – und weil sie ledig ist, von ihren eigenen Landsleuten drangsaliert und von Flüchtlingen anderer Nationalitäten geschnitten wird. Auch das: Alltag im Leben einer Stadt in Bayerisch-Schwaben.
Das Engagement von Behinderten, die zwar von der Lebenshilfe betreut werden, aber selbstständig in eigenen Wohnungen leben, begeistert Bosse. Da wird nachgebohrt, wann denn nun endlich der Bahnhof barrierefrei wird, warum es so wenige Wohnungen für Menschen mit Handicaps gibt, ob sich die Stadt noch einmal um die Special Olympics Bayern bewerben wird.
Der Freitag rast dahin. Dann ist „Tagesschau“-Zeit. Stefan Bosse tourt mit Stephanie Klaunzler-Bobritz in deren Fahrschulauto durch die Stadt. Die toughe, fröhliche Frau, die Bosse auch privat gut kennt, weist ihn auf Defizite und Verbesserungsmöglichkeiten aus Sicht der örtlichen Fahrlehrer hin.
Spontan macht Bosse einen zweiminütigen Abstecher zu seinem Vater, dem es gesundheitlich gerade nicht so gut geht. Immer wieder ruft er seine Lebensgefährtin an, sagt, wo er gerade ist, fragt, wie es geht. Das ist ihm wichtig. Seine Partnerin war alles andere als begeistert von der Tour. Die Ex-Frau, mit der er zwei Töchter hat, hat ihm einmal gesagt: „Dein Leben sind nur noch Termine, und wir sind auch nur noch ein Termin.“Diesen Fehler ein zweites Mal machen, das möchte Bosse nicht. Angesichts einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 80 bis 85 Stunden kein leichtes Unterfangen.
Langsam geht die Tag- in die Nachtschicht über. Nach einer Gesprächsrunde bei der Musikvereinigung Neugablonz der erste Termin bei Dunkelheit. 22 Uhr, Gartenparty bei Humedica. Wolfgang Groß, Chef der weltweit aktiven Hilfsorganisation, und gut 30 hauptberufliche und ehrenamtliche Helfer und Flüchtlinge reden mit Bosse über Gott und die Welt. Ob sie noch eine Frage habe, fragt er zum Abschluss ein kleines afghanisches Mädchen. „Nein“, antwortet die, „ich habe mich nur gefreut, dass du da warst.“
Beim mitternächtlichen Gespräch mit einer jungen Italienerin, die fragt, warum sie bei ihrer Eisdiele keine Markise haben darf, der Nachbarladen aber schon, und einem Disput mit einem älteren ExManager, der dem OB Grundzüge städtischer Wirtschaftsförderung erklären will, merkt man dem Duracell-Hasen an, dass auch die vollste Batterie mal leer wird. Die Hitze des Tages und die Schwüle der Nacht fordern ihren Tribut. Erstmals überlässt Stefan Bosse einen Großteil des Gesprächs seinem Mitarbeiter. Auch bei der anschließenden Unterhaltung im Alten- und Pflegeheim der Hospitalstiftung bleibt Bosse auffallend ruhig.
Kurz erreicht er noch einmal Höchstform, als er sich mit Jugendlichen auf einen Cheeseburger trifft, die aufbleiben wollen, „bis die Wolken wieder lila sind“. Kurz vor vier Uhr morgens dann noch ein ganz spezielles Spektakel: Im Licht von Stirnlampen mimt Bosse bei einer eigens für ihn angesetzten Nachtübung den Verletzten und lässt sich von der Bergwacht via Seilbahn über die Wertach retten.
Schließlich ist es Samstag Morgen, 5.19 Uhr. Stefan Bosse und seine engsten Mitarbeiter genießen bei einem Frühstück auf dem hoch gelegenen Römerturm den Sonnenaufgang und lassen die Tour noch einmal Revue passieren. Bosse will jetzt ins Bett. Aber nicht lang. Dann will er sich ins Auto setzen und um Punkt 16 Uhr am Nachmittag bei einem Konzert in der über 500 Kilometer entfernten tschechischen Partnerstadt Gablonz sein. Warum? Warum nicht. Ein Termin eben.