Paul Auster: Die Brooklyn Revue (61)
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzung von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Gab es jemals einen besseren Menschen als Harry Brightman?, fragte er. Nicht dass er wüsste, beantwortete er seine Frage selbst und brach zum zigsten Mal an diesem Abend in Tränen aus.
„Du hast überhaupt keine Wahl“, sagte Tom, indem er endlich aus seinem betäubten Schweigen erwachte. „Ob du hier bleibst oder nicht, das Geld gehört uns beiden. Wir sind Partner, und ich werde deinen Anteil auf gar keinen Fall für mich behalten. Halbe-halbe, Rufus. Wir teilen alles ganz genau auf.“
„Du brauchst mir nur das Geld für meine Medikamente zu schicken“, flüsterte Rufus. „Mehr will ich nicht.“
„Wir verkaufen das Haus und den Laden“, sagte Tom. „Wir versilbern alles und teilen uns den Ertrag.“
„Nein, Tommy“, sagte Rufus. „Das kannst du alles behalten. Du bist so clever, Mann, du kannst reich werden, wenn du hier weitermachst. Für mich ist das nichts. Ich
kenn mich mit Büchern nicht aus. Ich bin doch bloß ein Freak, Mann, ein kleiner farbiger Freak, der hier nicht hingehört. Ein Mädchen im Körper eines Jungen. Ein sterbender Junge, der nur noch nach Hause will.“
„Du wirst nicht sterben“, sagte Tom. „Du bist doch bei guter Gesundheit.“
„Wir alle sterben, mein Freund“, sagte Rufus und zündete sich den nächsten Joint an. „Nimm das nicht so schwer. Ich seh das gelassen, Mann. Meine Oma wird gut für mich sorgen. Denk nur dran, mich ab und zu mal anzurufen, okay? Versprich mir das, Tommy. Wenn du meinen Geburtstag vergisst, verzeih ich dir das nie.“
Als ich dem Disput der beiden jungen Männer zuhörte, geriet ich selbst ein wenig aus der Fassung. Es war nicht meine Art, Gefühle offen zu zeigen, aber ich war immer noch aufgewühlt von dem Gespräch mit Dryer, das mir viel mehr abverlangt hatte als erwartet. Ich hatte für die Konfrontation die Rolle des harten Burschen angenommen und meine Stimme rau und böse gemacht, sodass ich mich angehört haben musste wie ein Ganove aus einem alten B-Movie.
Natürlich hatte Dryer nichts anderes verdient, aber bis mir die Worte aus dem Mund gekommen waren, hatte ich gar nicht gewusst, dass ich zu solcher Grobheit, zu solcher Brutalität überhaupt fähig war. Und jetzt, nur wenige Minuten nach diesem Telefonat, saß ich wieder oben in der Wohnung und musste mitanhören, wie Rufus Sprague genau die Dinge von sich wies, die Dryer Harry hatte wegnehmen wollen. Der Kontrast war zu krass, zu überwältigend, als dass mich der Unterschied zwischen diesen beiden Männern nicht bewegen konnte. Und doch hatte Harry beide geliebt, hatte mit derselben hilflosen Leidenschaft, mit derselben bedingungslosen Hingabe jedem der beiden die Treue gehalten. Wie war so etwas möglich?, fragte ich mich. Wie konnte jemand bei der Beurteilung eines Menschen so vollkommen falsch liegen und gleichzeitig den wahren Charakter eines anderen so klar erkennen? Rufus war erst sechs- oder siebenundzwanzig Jahre alt. Äußerlich glich er einem exotischen Wesen von einem fremden Planeten; mit seinem kleinen, makellosen Kopf, seinem honigbraunen Gesicht und seinen langen, schlanken Gliedmaßen war er der Inbegriff des Schwächlings, des Weichlings, des Schwulen. Aber er hatte auch etwas Kämpferisches, einen ungewöhnlichen Idealismus, etwas, das sich den Eitelkeiten und Wünschen widersetzte, die uns andere für die Versuchungen der Welt so anfällig machen. In seinem Interesse hoffte ich, dass er sich die Sache mit der Erbschaft noch einmal überlegen würde. Ich hoffte, er würde doch noch anfangen, wie wir anderen zu denken, und das Vermögen annehmen, das man ihm vermacht hatte, aber als Tom auch nach zwei Stunden mit seinen Argumenten nicht zu ihm durchgedrungen war, stand für mich fest, dass es nie dazu kommen würde.
Am nächsten Tag erledigten wir die praktischen Dinge. Harrys Freunde mussten angerufen werden (das übernahm Rufus), Bette in Chicago und Buchhändlerkollegen in New York mussten angerufen werden (das übernahm Tom), Bestattungsunternehmen in Brooklyn mussten angerufen werden (das übernahm ich). In seinem Testament hatte Harry verfügt, dass sein Leichnam verbrannt werden sollte, aber was mit der Asche geschehen sollte, hatte er nicht gesagt. Nach langwieriger Diskussion einigten wir uns darauf, sie zwischen den Bäumen des Prospect Park zu verstreuen.
In New York City ist es nicht erlaubt, die Asche von Toten an öffentlichen Orten auszubringen, aber wir nahmen an, wenn wir uns unauffällig an eine abgelegene, selten besuchte Stelle zurückzögen, würde uns schon niemand bemerken. Die Rechnung für die Einäscherung von Harrys sterblichen Überresten und den Metallbehälter für die Asche belief sich auf etwas über fünfzehnhundert Dollar. Da sonst niemand etwas dazu beitragen konnte, beglich ich den Betrag vollständig aus meiner Tasche.
Am Nachmittag der kleinen Feier – Sonntag, der 11. Juni – ließ ich Lucy bei einem Babysitter und ging mit Tom in den Park; er trug den Kasten mit der Asche in einer grünen Einkaufstüte, die mit dem Logo von Brightman’s Attic bedruckt war.
Das Wetter war schon seit Beginn des Wochenendes furchtbar gewesen, schwül und drückend, sechsunddreißig Grad, hohe Luftfeuchtigkeit und erbarmungslose Sonne, aber am Sonntag war es am schlimmsten, das war einer dieser Tage, an denen man kaum Luft bekommt, an denen New York zum Vorposten tropischer Dschungel wird, zum heißesten, stinkendsten Ort der Welt. Jede Bewegung führte zu heftigen Schweißausbrüchen.
Wahrscheinlich lag es am Wetter, dass nur so wenige kamen. Harrys Manhattaner Freunde waren lieber in ihren klimatisierten Wohnungen geblieben, daher setzte sich unsere Schar nur aus einigen wenigen Getreuen aus seinem Viertel zusammen. Dazu zählten drei oder vier Ladeninhaber aus der Seventh Avenue, der Betreiber von Harrys Stammlokal und die Frau, die ihm die Haare geschnitten und gefärbt hatte. Nancy Mazzucchelli war natürlich da, ebenso ihr Mann, der falsche James Joyce, besser bekannt als Jim oder Jimmy. Ich sah ihn bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal und muss leider vermelden, dass er keinen vorteilhaften Eindruck auf mich machte. Er war groß und attraktiv, wie Tom ihn angekündigt hatte, beschwerte sich aber unablässig über die Hitze und die Mückenschwärme im Park, was ich für ebenso kindisch wie egoistisch hielt, zumal er gekommen war, um einem Mann die letzte Ehre zu erweisen, der nicht mehr das Vergnügen hatte, sich über irgendetwas beschweren zu können.
Aber egal. An diesem Tag war nur eins wichtig, und das hatte weder mit Nancys Mann noch mit dem Wetter zu tun. »62. Fortsetzung folgt