Türken suchen Schutz vor Erdogan
Über 400 türkische Diplomaten und Staatsbedienstete haben seit den Säuberungswellen in Deutschland Asyl beantragt. Die Kritik am Kurs der Bundesregierung gegenüber Ankara wächst
Bereits ein Jahr dauern die umstrittenen Säuberungswellen gegen Regierungskritiker in der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch an. Mit unverminderter Härte geht Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan gegen seine politischen Gegner vor. Weltweit wächst die Kritik an seiner autokratischen Herrschaft. Aber auch die Bundesregierung gerät unter Druck, zu wenig entschieden gegen Verhaftungswellen und Menschenrechtsverletzungen in der Türkei Stellung zu beziehen.
Zugleich suchen immer mehr türkische Staatsbürger in Deutschland Schutz vor politischer Verfolgung: Allein 209 türkische Diplomaten und weitere 205 teils hochrangige Staatsbedienstete haben seit Jahresbeginn Asyl beantragt. Insgesamt verzeichnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in diesem Jahr über 3200 Asylanträge türkischer Staatsangehöriger.
Seit der Umsturzversuch des Militärs heute vor einem Jahr nieder- geschlagen wurde, haben in der Türkei über 100000 Staatsbedienstete ihren Arbeitsplatz verloren, darunter viele Lehrer und auch unabhängige Wissenschaftler. Mehr als 50 000 Menschen sind verhaftet worden.
Nach Angaben der Organisation „Reporter ohne Grenzen“sitzen derzeit auch 170 Journalisten in türkischen Gefängnissen – mehr als in jedem anderen Land der Welt. Die Regierung unter Erdogan habe „den Ausnahmezustand für eine beispiellose Hexenjagd auf ihre Kritiker in den Medien genutzt“, kritisiert die Organisation. Die Regierung hat nach Angaben des Verlegerverbands 45 Zeitungen geschlossen.
Der Vorsitzende des Deutschen Journalistenverbandes, Frank Überall, fordert von der Bundesregierung einen stärkeren Einsatz für die in der Türkei verhafteten Journalisten, darunter auch die Ulmerin Mesale Tolu, die seit Wochen mit ihrem zweijährigen Sohn in Istanbul im Gefängnis sitzt. „Nur mit politischem Druck lässt sich etwas bewirken“, sagt Überall.
Auch Grünen-Chef Cem Özdemir wirft der Bundesregierung einen zu zögerlichen Kurs gegenüber Erdogan vor. Er warnt, dass dessen Arm über die Islam-Vereinigung Ditib bis nach Deutschland reiche: „Wir dürfen nicht zulassen, dass Moscheen zu Spionageeinrichtungen umfunktioniert werden, wie dies teilweise passiert ist“, betont der Grünen-Chef. „Die Bundesregierung hat mit Ermittlungen abgewartet, bis Beweismittel vernichtet waren – aus Angst vor Erdogan, so drängt sich der Eindruck auf.“
Özdemir betont, bis heute sei nicht klar, wer für den versuchten Staatsstreich verantwortlich sei. „Klar ist jedoch, dass Ankara den Putschversuch für eine lang geplante Säuberungswelle und Massenverhaftungen nutzt.“Die türkische Regierung kündigte gestern an, den umstrittenen Ausnahmezustand erneut zu verlängern. (mit afp, kna)
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