Journalisten vor Gericht
Im Prozess gegen die Zeitung Cumhuriyet wird klar, wie gefährdet die Meinungsfreiheit ist
Hunderte Demonstranten fordern Pressefreiheit und lassen vor dem riesigen Justizpalast im Istanbuler Stadtteil Caglayan bunte Ballons in den Himmel aufsteigen. Als der Prozess gegen Journalisten der angesehenen Oppositionszeitung Cumhuriyet beginnt, herrscht zeitweise der Eindruck, dass nicht die Medienvertreter, sondern die Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan auf der Anklagebank sitzt. Einer dieser Momente kommt gegen Mittag. Der wie seine Kollegen als angeblicher Terrorhelfer angeklagte Cumhuriyet-Kolumnist Kadri Gürsel hält seine Verteidigungsrede. Die Anklage wirft ihm und den anderen Mitarbeitern der Zeitung vor, mit der islamischen Bewegung des Predigers Fethullah Gülen den Sturz Erdogans betrieben zu haben. Cumhuriyet habe gegen Erdogan Stimmung gemacht.
Lächerlich, entgegnet Gürsel – und spricht eine Tatsache aus, die in diesen Tagen in der Türkei häufig nur hinter vorgehaltener Hand erwähnt wird. Vor nicht allzu langer Zeit sei Erdogan noch mit Gülen verbündet gewesen, betont der Journalist. Er selbst habe in seinen Kolumnen kritisch auf diese Zusammenarbeit hingewiesen. Wer wolle, könne das alles nachlesen. Heute will Erdogan von dem Bündnis mit Gülen nichts mehr wissen. Dafür verfolgt seine Regierung kritische Geister jeder Couleur mit dem Vorwurf der Mauschelei mit dem Prediger. Einer der von der Staatsanwaltschaft bestellten Gutachter, die Cumhuriyet staatszersetzende Tendenzen vorwerfen, trete in sozialen Netzwerken offen als Bewunderer von Erdogan auf, sagt Akin Atalay, der ebenfalls angeklagte Geschäftsführer des Blattes. Er und Gürsel gehören zu den zwölf Angeklagten, die seit teilweise neun Monaten in Untersuchungshaft sitzen. Gegen den nach Deutschland geflohenen Ex-Chefredakteur von Cumhuriyet, Can Dündar, wird in Abwesenheit verhandelt.
Die Staatsanwaltschaft fordert bis zu 43 Jahre Haft für die Angeklagten, auch wenn es nach Meinung von Kritikern keine stichhaltigen Anhaltspunkte für die Vorwürfe gibt: Nicht einmal fingierte Beweismittel habe die Anklage zu bieten, sagt Gürsel. Der erste Verhandlungstag zeigt, dass sich die angeklagten Cumhuriyet-Mitarbeiter nicht entmutigen lassen. „Bis zum letzten Atemzug“werde er bei seiner Haltung bleiben, sagt Atalay. „Wir geben nicht auf.“